Syriens grenzenloses Flüchtlingselend
Frau Hourani, die Krise in Syrien hat dafür gesorgt, dass der Libanon mit dem größten Zustrom von Flüchtlingen seit Jahrzehnten zu kämpfen hat. Immer neue Wellen von Flüchtlingen gelangten zuletzt in das Land. Wie viele Flüchtlinge leben zurzeit im Libanon?
Dr. Guita Hourani: Wie Sie wissen, hat der Libanon seine Grenzen zu Syrien nicht geschlossen und so können Flüchtlinge ungehindert ins Land kommen. Deshalb ist es auch so schwer zu sagen, wie viele Flüchtlinge genau zurzeit in unserem Land leben. Wir kennen nur die Zahlen, der beim UNHCR registrierten Flüchtlinge, den Rest müssen wir schätzen. Laut dem Flüchtlingshilfswerk der UN sind mehr als 147.000 syrische Flüchtlinge im Libanon registriert und 64.000 weitere warten auf die Registrierung. Diese Zahlen steigen aber mit jedem Tag und der UNHCR berichtet, dass zurzeit bei ihm täglich etwa 10.000 Flüchtlinge um Registrierung nachsuchen.
Wie sieht der rechtliche Status der Flüchtlinge im Libanon allgemein aus und der der syrischen Flüchtlinge im Besonderen?
Hourani: Der rechtliche Status der Flüchtlinge im Libanon ist eine ungeklärte Frage. Dem Land fehlt es an einer effektiven Gesetzgebung und an Regularien für den Umgang mit Flüchtlingen. Der Libanon ist weder der UN-Konvention zum Status von Flüchtlingen aus dem Jahr 1951 beigetreten, noch dem Zusatzprotokoll von 1967.
Das Land besteht weiterhin darauf, kein Asylland zu sein, was vor allem mit seiner sozio-demografischen Zusammensetzung zu tun hat sowie mit der großen Zahl palästinensischer Flüchtlinge, die bereits auf libanesischem Territorium leben. Trotz all dieser kaum zu bewältigenden Probleme hat die libanesische Regierung dennoch die Grenzen zu Syrien offengehalten, im Gegensatz zur Türkei und zu Jordanien.
Es wird gesagt, dass die tatsächliche Zahl syrischer Flüchtlinge in Syrien noch vielfach höher sei als die offiziellen Statistiken des UNHCR dies nahelegen. Aus welchem Grund lassen sich nicht alle Flüchtlinge dort registrieren?
Hourani: Allgemein ist davon auszugehen, dass die wirkliche Zahl die offiziellen Zahlen um das Doppelte oder sogar noch mehr übersteigt. Viele der Flüchtlinge, insbesondere diejenigen unter ihnen, die bereits im Libanon gearbeitet haben, haben sich im Libanon bereits eine Existenz aufgebaut, andere mögen vielleicht gar nicht wissen, wie man sich registriert und wieder andere, vor allem die aus der Mittelklasse und der Oberschicht, können es sich leisten, auf den Flüchtlingsstatus zu verzichten und wollen nicht als solche stigmatisiert werden.
Manche fürchten womöglich auch, als Syrer erkannt zu werden und haben Angst vor Vergeltungsmaßnahmen, gibt es doch immer wieder Gerüchte, dass Mitarbeiter des syrischen Geheimdienstes die Flüchtlingsgemeinschaften unterwandert hätten.
Einige befürchten, dass ihre Namen der libanesischen Regierung bekannt gemacht werden könnten und diese sie an das syrische Regime weitergibt. Es gab Berichte, dass einige Flüchtlinge zu Beginn des Flüchtlingsstroms an das Regime in Damaskus zurücküberstellt, und diese dann in Syrien getötet wurden. Aus diesem Grund vertrauen die syrischen Flüchtlinge der libanesischen Regierung nicht mehr.
Vor dem Hintergrund der hohen Zahlen syrischer Flüchtlinge im Libanon: warum gibt es keine offiziellen Flüchtlingslager?
Hourani: Die Regierung hat sich gegen die Einrichtung von Lagern entschieden, weil man mit den Flüchtlingslagern für Palästinenser so schlechte Erfahrungen gemacht hat. Diese haben sich zu Staaten innerhalb des Staates entwickelt, zu rechtsfreien Zonen, die zunehmend genutzt wurden, um aus ihnen heraus die Sicherheit in unserem Land zu bedrohen. Sagt man „Lager“ im Libanon, denkt jeder an einen langfristigen Aufenthalt, den sich der Libanon angesichts der schwierigen innenpolitischen Herausforderungen nicht leisten kann.
Wo leben die Flüchtlinge denn hauptsächlich?
Hourani: Der Großteil der beim UNHCR registrierten Flüchtlinge befindet sich in der nördlich gelegenen Region Akkar, und zwar etwa 75.000, danach kommen Beirut und der Südlibanon mit etwa 18.000 und die Bekaa-Ebene mit 60.000. Allerdings kann man Syrer – ganz gleich ob Flüchtlinge oder nicht – in praktisch jeder Ortschaft Libanons finden. Die Flüchtlinge leben bei Gastfamilien, in Schulen oder Moscheen und einige von ihnen mieten auch Wohnungen ganz unterschiedlicher Qualität an. Andere campieren auf öffentlichen Plätzen oder leben in verfallenen Gebäuden.
Können Sie die größten humanitären Probleme nennen, denen sich die heute im Libanon lebenden syrischen Flüchtlinge gegenübersehen?
Hourani: Die meisten der syrischen Flüchtlinge leben unter fast unzumutbaren Bedingungen, in heruntergekommenen Häusern, viele von ihnen haben nicht genug zu essen und keine Möglichkeit, während der Wintermonate zu heizen. Sie brauchen eine medizinische Versorgung. Auch sind viele von ihnen traumatisiert. Die schulische Bildung der Flüchtlingskinder ist eine weitere große Herausforderung.
Außerdem ist darauf hinzuweisen – und das ist eine Frage, die mich besonders beschäftigt –, dass viele Familien gezwungen sind, ihre Töchter bereits in sehr jungen Jahren zu verheiraten. Die finanziellen Zwangslagen haben bereits zu Fällen von Missbrauch und Zwangsprostitution geführt. Und schließlich darf nicht vergessen werden, dass insbesondere die jungen Menschen unter den Flüchtlingen immer in Gefahr sind, von radikalen politischen Parteien geködert zu werden.
Welche staatlichen Institutionen, gemeinnützigen Organisationen oder NGO's unterstützen die syrischen Flüchtlinge im Libanon?
Hourani: Das Ministerium für soziale Angelegenheiten, die "High Relief Commission", das Bildungsministerium und das Innenministerium gehören zu den staatlichen Institutionen, die für die Flüchtlinge zuständig sind. Der UNHCR organisiert die internationale humanitäre Arbeit vor Ort und arbeitet dabei zusammen mit vielen internationalen und lokalen Organisationen. Angesichts der weiter steigenden Zahl von Flüchtlingen, die zu uns kommen, wächst auch die Notwendigkeit internationaler Unterstützung, in finanzieller wie humanitärer Hinsicht.
Sehen Sie die Gefahr wachsender Spannungen zwischen den Gastgemeinden und den syrischen Flüchtlingen im Libanon?
Hourani: Viele der Flüchtlinge oder auch diejenigen, die schon früh wegen der Krise in Syrien in den Libanon gekommen sind, suchen nach Jobs für ungelernte oder nur gering qualifizierte Arbeiter. Dies schafft natürlich eine Konkurrenzsituation zu den entsprechenden libanesischen Staatsangehörigen.
Die Medien berichten davon – und auch einzelne Vorkommnisse erhärten dies –, dass es vermehrt zu Animositäten zwischen den Gruppen kommt, nicht zuletzt, da auch die Wirtschaft im Libanon in eine Rezession abzurutschen droht. Hinzukommt, dass es auch libanesische Familien im Norden und der Bekaa-Ebene gibt, die dringend auf Hilfe angewiesen sind; wenn diese sehen, dass sie keine Unterstützung bekommen, wohl aber die Flüchtlinge aus dem Nachbarland, könnte dies tatsächlich zu wachsenden Spannungen führen.
Wie gehen die libanesische Regierung und die Öffentlichkeit im Land mit der syrischen Krise um?
Hourani: Die Situation zwischen dem Libanon und Syrien ist heikel. Im Libanon ist die Meinung zur syrischen Krise tief gespalten: einige sind auf Seiten des Regimes, andere halten zu den Aufständischen. Die libanesische Regierung selbst ist in dieser Frage nicht einig. So haben einige der gegenwärtig im Kabinett vertretenen Politiker gefordert, die Grenzen zu Syrien zu schließen und keine Flüchtlinge mehr ins Land zu lassen, während die Regierung sich von der Krise selbst distanzierte, und dafür den Begriff "Disassoziationspolitik" einführte.
Die Spaltung der öffentlichen Meinung spiegelt dabei die Uneinigkeit innerhalb der politischen Klasse wider. Die Ungewissheit darüber, wie die Krise enden und die Zukunft Syriens aussehen wird, sorgt bei vielen Libanesen für große Besorgnis über die große Zahl der Menschen, die noch aus dem Nachbarland kommen könnten. Einige fürchten auch, dass, ganz egal, wie sich die Lage in Syrien entwickeln wird, die Flüchtlinge nicht direkt wieder in ihr Heimatland zurückkehren werden. Viele Libanesen schauen sich die Situation an und sehen darin ein zweites Palästinenserproblem.
Interview: Björn Zimprich
Übersetzt aus dem Englischen von Daniel Kiecol
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de