Das Erbe des Krieges
Der libanesische Bürgerkrieg von 1975 bis 1990 hinterließ viele Wunden und eine entlang ihrer Religionsgruppen tief gespaltene Gesellschaft. Nach dem Ende des Bürgerkriegs wurde die Erinnerung an die Vergangenheit drei Jahrzehnte kollektiv verschwiegen. Der Staat hoffte, dadurch ein Gefühl von Normalität herstellen zu können. Während das zunächst den Schmerz betäubte, blieben tiefsitzende Gefühle von Verlust, Scham und Hoffnungslosigkeit bestehen.
Kollektive Opfernarrative wurden nur innerhalb der gespaltenen Bevölkerungsgruppe weitergegeben. In Schulbüchern bleibt die Vergangenheit bis heute tabu und ein breiter öffentlicher Diskurs fand lange nicht statt. Stattdessen dienen Migranten, Geflüchtete und fremde Mächte als Sündenböcke für die schlechte Sicherheitslage und die zum Teil prekären politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Politische Parteien bedienen sich einer Sprache der Angst und des Misstrauens, um das starke Bedürfnis vieler Menschen nach Sicherheit zu manipulieren.
Der landesweite Aufstand, der im Oktober 2019 begann und als Oktoberrevolution bekannt ist, stellt diese Realitäten und fremdbestimmten Identitäten infrage. Demonstrierende verlangten ein Ende von Korruption, Vetternwirtschaft und mangelnder Verantwortung, nachdem die Regierung eine neue Steuer auf Internettelefonie angekündigt hatte.
Die Oktoberrevolution führte zum Zerfall der Regierung, das Land stand monatelang am Rande des finanziellen Bankrotts. Die gespaltene Gesellschaft, in der viele so lange geschwiegen hatten, versammelte sich hinter der Forderung nach einem grundlegenden gesellschaftlichen und politischen Wandel. Die Protestierenden rissen die Gesellschaft erstmals seit langem aus dem politischen Tiefschlaf.
Friedensarbeit muss kollektive Traumata berücksichtigen
Gewalttätige Konflikte können ganze Gesellschaften traumatisieren, und diese Traumata werden manchmal von Generation zu Generation weitergegeben. Im Libanon sind kollektive Traumata allgegenwärtig. Die Friedenorganisation Forum Ziviler Friedensdienst e.V. (forumZFD) wendet in ihren Projekten im Umgang mit der Vergangenheit das Prinzip der Multiperspektivität an.
Multiperspektivität geht davon aus, dass Geschichte subjektiv und interpretationsabhängig ist. In Gesprächen über die Vergangenheit entwickeln Menschen ein Verständnis darüber, wie das Erlebte individuelle und kollektive Identitäten prägt; so wird ein Heilungsprozess unterstützt.
In einer Reihe von Trainings mit dem Titel „Memory of War“ reflektierten Friedensaktivisten aus verschiedenen Nachbarschaften über kollektive Identitätsnarrative, die vom Bürgerkrieg geprägt wurden. Vor dem Hintergrund der Oktoberrevolution ging es auch um die Bedeutung eines gesunden Trauerprozesses.
Dieser ist eine Grundvoraussetzung dafür, Körper und Geist aus der Starre eines nicht verarbeiteten Traumas zu lösen, das zu kollektiven Gefühlen von Angst und Hoffnungslosigkeit führt. Die Aktivisten schauten sich gegenwärtige Konflikte in ihrem Umfeld durch die Linse der Multiperspektivität an und eigneten sich neue Methoden zum Umgang mit der Vergangenheit an.
Motivation für Schüler und Lehrer
ForumZFD unterstützt außerdem Lehrer und Lehrerinnen aus dem ganzen Land und aus allen religiösen Gruppen dabei, die Vergangenheit so zu vermitteln, dass sich die Gräben nicht vertiefen, sondern möglichst schließen. Zusammen mit seiner Partnerorganisation, der Lebanese Association for History, setzt forumZFD kreative Methoden ein, um Lehrer wie Schüler zu motivieren, umstrittene historische Ereignisse und die Erinnerung an die Gewalt in einem anderen Licht zu sehen.
Neben der Multiperspektivität hilft dabei auch der Austausch mit älteren Menschen. Ein Beispiel für den Dialog der Generationen ist das Projekt „From Local History to a Wider Understanding of the Past”. Darin zeichnen Schülerinnen und Schüler die Erinnerungen Älterer an den Bürgerkrieg auf, setzen diese dann künstlerisch um und stellen eine Verbindung zu ihrem eigenen, gegenwärtigen Leben her.
Ein anderer Fokus des forumZFD ist es, Aktivisten über die gesellschaftlichen Gräben hinweg für den Einsatz für Gewaltfreiheit zu mobilisieren. Gemeinsam mit der Partnerorganisation The Lebanese Women Democratic Gathering hat forumZFD die Gründung einer Frauenbewegung aus syrischen und libanesischen Friedensaktivistinnen unterstützt: Nisaa Kaderat (fähige Frauen).
Zuflucht für Frauen aller Nationalitäten und Generationen
In ihrem Gemeindezentrum in Baalbek finden Frauen aller Nationalitäten und Generationen Zuflucht, die aufgrund ihres Geschlechts Gewalt erleben. Mit Hilfe von Methoden der gewaltfreien Kommunikation, des Intergruppen-Dialogs und der psychosozialen Fürsorge begegnen sich die Frauen mit Empathie und setzen sich dabei mit Gefühlen von Einsamkeit, der Opferrolle und mit Scham auseinander.
So wird einerseits die Berücksichtigung kollektiver Traumata in die Konflikttransformation aufgegriffen. Andererseits schaffen Gruppenprozesse eine Atmosphäre der Empathie, in der individuelle Erfahrungen mit Hilfe der Gruppe verarbeitet und Lernprozesse angestoßen werden können. Wenn Konflikttransformation also sensibel mit den psychosozialen Dynamiken kollektiver Traumata umgeht, stärkt sie die Resilienz auf individueller wie gesellschaftlicher Ebene.
Darüber hinaus ist es wichtig, mit Hilfe von Medien, Festivals, Ausstellungen und anderen Kunstformen gemeinsame Narrative der Vergangenheit und der Opferidentitäten zu verwandeln. Diese Ansätze helfen dabei, Feindbilder „des anderen“ abzubauen. Dadurch wächst wiederum der Glaube, dass man selbst etwas bewegen kann, und das hilft, die Hilflosigkeit zu überwinden. Aus Passivität und politischer Apathie können so Ermächtigung und Handlungsfähigkeit werden.
Miriam Modalal & Dalilah Reuben-Shemia
© D+C | Entwicklung & Zusammenarbeit 2020
Miriam Modalal ist Projektmanagerin bei forumZFD.
Dalilah Reuben-Shemia war Beraterin für Frieden und Konflikte bei forumZFD und forscht zu Gewaltfreiheit.