Vom Größenwahn zu wahrer Größe?
Die Türkei hat gewählt und Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan ist erwartungsgemäß zu dritten Mal im Amt bestätigt worden. Das ist für sich genommen schon einmal einer der größten Erfolge in der politischen Geschichte der türkischen Republik, doch Erdogan wollte mehr. Zweidrittel der Mandate für seine Partei für Fortschritt und Gerechtigkeit, AKP (Adalat ve Kalkinma Partisi), so hatte er in seinem Wahlkampf landauf landab verkündet, sei sein Ziel. Alles andere muss demnach als Niederlage gelten.
Tayyip Erdogan hat nach bald zehn Jahren als Regierungschef in letzter Zeit häufiger Anzeichen akuten Größenwahns erkennen lassen. Jede Kritik an ihm betrachtete er als Majestätsbeleidigung, Kritiker bekamen es schnell mit dem Staatsanwalt zu tun, was soweit ging, dass Pfiffe in einem Fußballstadion, zu dessen Einweihung Erdogan erschienen war, zu Massenbefragungen der Stadionbesucher durch die Polizei führte.
Auch international hob Erdogan ab. Wachsende Popularität in der arabischen Welt, ausgelöst durch einen kühl inszenierten Konflikt mit Israel, verführten ihn zu der Vorstellung, er sei so etwas wie der neue Nasser, ober aber die moderne Neuauflage osmanischer Herrscher, die ja schon einmal den Nahen Osten kontrolliert hatten.
Ein Dämpfer nach dem politischen Höhenflug
Dieser Größenwahn führte bei Erdogan zu der Vorstellung, mit einer neuen Verfassung, die das nach dem Militärputsch von 1980 entstandene, bis heute gültige, autoritäre Regelwerk ersetzen soll, könne er das parlamentarische System des Landes durch ein auf seine Person zugeschnittenes Präsidialsystem ersetzen. Als Präsident mit ähnlichen Befugnissen wie der Kollege in Paris, wollte er dann die Türkei möglichst noch die kommenden zehn Jahre weitgehend ohne Kontrolle durch eine schlagkräftige Opposition oder kritische Medien nach seiner Vorstellung gestalten.
Daraus wird nun nichts. Erdogan hat bei den Wahlen nicht nur die angestrebte 2/3 Mehrheit verpasst, er hat sogar trotz einer prozentualen Steigerung von 47 auf knapp 50 Prozent fünf oder sechs Mandate im Parlament weniger als in der letzten Legislaturperiode. Damit entfällt auch die zweite Möglichkeit, doch noch mit einer AKP geprägten Verfassung zum Zug zu kommen.
Mit der Mehrheit von 3/5 aller Angeordneten, das sind 330 Stimmen, hätte er einen Verfassungsentwurf im Parlament abstimmen lassen und anschließend dem Volk zum Referendum vorlegen können. Bei einer Volksabstimmung hätte er immerhin auch noch große Chancen gehabt, seine Vorstellungen durchzusetzen.
Alle diese Träume sind nun hinfällig. Erdogan ist zwar der erfolgreichste Ministerpräsident seit die Türkei nach dem Zweiten Weltkrieg das Mehrparteiensystem eingeführt hat. Doch auf dem Zenit seiner Macht scheint er nun unschlüssig, wohin der weitere Weg gehen soll.
Polarisierung der Gesellschaft
In der Wahlnacht hat Erdogan zwar Demut gelobt und angekündigt, er und seine Regierung werden in den kommenden Wochen und Monaten auf die anderen Parteien zugehen, um im Konsens zu einem neuen Grundgesetz zu kommen. Doch seine Kritiker sind skeptisch.
Schon nach dem Wahlsieg im Sommer 2007 hatte Erdogan angekündigt, auf seine politischen Gegner zugehen zu wollen, um die Gesellschaft wieder zu versöhnen. Doch das Gegenteil war der Fall. Heute ist die türkische Gesellschaft polarisiert wie nie.
Anhänger und Gegner der AKP sind sich spinnefeind, es gibt keinen konstruktiven Dialog zwischen dem religiösen und dem säkularen Lager. Dazu kommt die ethnische Teilung. Um die rechte, ultranationalistische MHP aus dem Parlament zu drängen – nur dann hätte er eine Chance auf eine verfassungsändernde Mehrheit gehabt – hat Erdogan sich im Wahlkampf die Rhetorik der Rechtsradikalen gegenüber den Kurden zugelegt. Die kurdische BDP wurde pauschal als terroristisch beschimpft, den inhaftierten PKK-Chef Abdullah Öcalan, erklärte er, wolle er hängen lassen.
Für eine neue Verfassung im Konsens braucht Erdogan aber nun sowohl die Kurden wie auch das säkulare Lager. Doch Erdogan ist ein Polarisierer, kein Versöhner. Es wäre ein politisches Wunder, wenn er seinem Größenwahn soweit abschwören würde, dass die kurdischen Abgeordneten und die sozialdemokratische CHP, die beide die Anzahl ihrer Sitze im Parlament deutlich erhöhen konnten, in die Lage versetzt würden, mit ihm zusammen zu arbeiten.
Wichtige Reformen auf Eis
Viel wahrscheinlicher ist, dass Erdogan die innenpolitische Reformarbeit, wie es sich schon in den letzten Jahren angedeutet hat, schleifen lässt und sich ganz auf die Außenpolitik konzentriert. Zwischen Gaddafi und der libyschen Opposition zu vermitteln, hat doch ein ganz anderes Flair, als sich beispielsweise um die Neugestaltung der Sozialversicherung zu kümmern. Dabei würde eine neue Verfassung dringend gebraucht.
Nicht nur, weil die alte eben noch den Geist des Militärputsches verströmt, sondern weil ohne neue Verfassung der schwerwiegendste Konflikt des Landes, die Anerkennung der Kurden als gleichberechtigte Bürger mit den gleichen Rechten, praktisch nicht möglich ist. Die herrschende Verfassung ist so vom Türkentum und der türkischen Sprache dominiert, dass Kurden und andere Minderheiten dort nicht vorkommen können.
Solange diese Verfassung in Kraft ist, ist eine politische Lösung der Kurdenfrage nicht denkbar. Erdogan hat es deshalb jetzt in der Hand, vom Größenwahn zu wahrer Größe zu kommen. Findet er sich zu einer konstruktiven Zusammenarbeit mit Kurden und Sozialdemokraten bereit, kann er wirklich Geschichte machen.
Jürgen Gottschlich
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Redakteur: Lewis Gropp/Qantara.de