Angekommen in der Mitte der Gesellschaft

Die regierende AKP von Recep Erdogan konnte bei den türkischen Parlamentswahlen ihren Stimmenanteil vergrößern. Sie ist damit zur ausgleichenden Kraft in der Türkei geworden, wie Günter Seufert aus Istanbul berichtet.

Fahnen der AKP mit dem Bild von Recep Tayyip Erdogan; Foto: AP
Wahlsieger der Parlamentswahlen: die AKP und Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan

​​Nach außen hin drehte sich vor der Wahl in der Türkei alles um Laizismus und Islam, oder - um mit den Worten der Beteiligten zu sprechen - um Religionsfreiheit oder islamische Bedrohung. Doch nur ein Fünftel der Bevölkerung sieht den Säkularismus in Gefahr, zu dem sich weit mehr als vier Fünftel der Menschen im Land bekennen.

Und auch jetzt, da die muslimisch-demokratische Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) von Recep Tayyip Erdogan, die vor der Wahl als Zentrum der religiösen Reaktion betrachtet worden war, die Wahl mit 47 Prozent der Stimmen überwältigend gewann, herrscht nirgends eine Spur von Panik.

Nach viereinhalb Jahren Alleinregierung konnte die AKP ihre Stimmen um circa 12 Prozentpunkte erhöhen, von 34,2 auf nicht ganz 46,7 Prozent und wird damit erneut alleine die Regierung stellen.

Mit 21 Prozent stagnierte die größte Oppositionspartei, die sozialdemokratische kemalistische Republikanische Volkspartei (CHP). Die rechtsextreme Partei der nationalistischen Bewegung (MHP) verdoppelte fast ihre Stimmen und kam auf 14,3 Prozent.

Zur Umgehung der landesweiten Zehn-Prozent-Hürde schickte die pro-kurdische Demokratische Gesellschaftspartei (DTP) ihre Kandidaten als Unabhängig ins Rennen. Den 23 Sitzen im Parlament, die sie gewannen, entsprechen etwa vier Prozent der Stimmen, deutlich weniger als die 6,2 Prozent, die ihr Vorläufer, die DeHaP, bei den letzen Wahlen einfuhr.

Front gegen AKP

Im Wahlkampf feuerte eine "nationale Front" aller Parteien (außer der pro-kurdischen DTP) gegen die AKP und bezeichnete ihre Regierungsmannschaft als vaterlandslose Gesellen, welche die Existenz des Staates und der Nation leichtfertig aufs Spiel setzen würden.

Die CHP bemühte dafür die islamische Gefahr, die MHP die türkischen Soldaten, die den Terroristen der PKK zum Opfer fallen; die nationalistisch-islamistische Partei der Glückseligkeit (SP) den Ausverkauf des Vaterlandes an die Juden.

Und alle, einschließlich der Mitte-Rechts-Partei Demokratische Partei (DP), setzten EU-Orientierung, Privatisierung, Demokratisierung und wirtschaftliche Öffnung mit dem Verkauf nationaler Interessen gleich.

Im Einklang mit den Generälen, welche der AKP Ende April in einem Memorandum mit einem Putsch gedroht hatten, forderte diese Riege der Patrioten einen sofortigen Einmarsch türkischer Truppen in den Nordirak. Die Lager der PKK sollten ausgeräuchert und die Konsolidierung des irakischen Kurdenstaates unter Mesut Barzani doch noch verhindert werden.

Dass sich die Hälfte der Bevölkerung von diesem Chor der Panikmacher nicht hat ins Boxhorn jagen lassen, zeigt, dass der Wirkung nationalistischer Hetze in der Türkei Grenzen gesetzt sind.

Fiasko für Kemalisten

Das Abstimmungsergebnis ist außerdem ein Hinweis darauf, dass die Türken, welche ihre Soldaten über alles lieben, in politischen Fragen anders denken als ihre Generäle. Der Ausgang dieser Wahl ist deshalb ohne Wenn und Aber ein Sieg der Demokraten.

Ein Fiasko ist das Ergebnis für die beinharten Kemalisten in der CHP, die trotz ihres Bündnisses mit der Demokratischen Links-Partei (DSP), trotz Unterstützung der Generäle und trotz der "Republikdemonstrationen", an denen im Mai und im Juni Millionen Menschen teilgenommen hatten, nur 1,5 Prozent zulegen konnte.

Die Gründungspartei der Republik, deren Ideologie die offizielle Lehre des Staates ist, wurde nur in fünf der 81 Provinzen der Türkei stärkste Partei und hat heute nur in Westanatolien sozialpolitische Bedeutung.

In 36 Provinzen brachte sie keinen einzigen Kandidaten durch. Ihre Wähler gehören zur Bildungselite, haben ihre Schäfchen im Trockenen, sind meistens Angestellte, nur selten Arbeiter und sehr oft sind sie Rentner.

Integration der Kurden möglich

Äußerst gemischt ist das Ergebnis für die Pro-Kurdische Partei. Zwar ist sie seit Anfang der 90er erstmals wieder im Parlament vertreten, doch ist sie gleichzeitig schwer angeschlagen. In acht der 13 Provinzen des mehrheitlich kurdisch besiedelten Südostens war sie 2002 stärkste Partei; 2007 sank diese Zahl auf vier Provinzen.

Mehrheitlich hat sich der Südosten bei dieser Wahl für die AKP entschieden, was in der Türkei Hoffnung auslöst, dass trotz aller bisher gemachter Fehler die Kurden noch immer politisch zu integrieren sind.

Der Zuwachs für die MHP steht für die Welle ethnischen Nationalismus, die sich seit fünf Jahren über Anatolien ergießt. Sie äußert sich in Lynchmordversuchen gegen Kurden und Linke, in Anschlägen gegen die religiösen Minderheiten und darin, dass die Begräbnisse gefallener Soldaten zum Ritual nationalistischer Hetze verkommen.

Die MHP hat von allen Parteien, außer der pro-kurdischen DTP, Zulauf, und rechts von ihr steht die Große Einheitspartei (BBP) bereit, deren Führer als Unabhängiger ins Parlament einzog. Die MHP ist bei den Erstwählern, den Arbeitslosen und unter den Studenten stark.

Gefahr für die Republik

Fast völlig profillos, was die Wähler betrifft, ist dagegen die AKP, und das macht sie so interessant. Die früheren Islamisten sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen, und die AKP ist heute die einzige Volkspartei in der Türkei.

Sie ist fast gleichmäßig in allen Regionen, Schichten und Altersgruppen vertreten. Und sie ist die einzige Partei, welche die Kurden des Südostens an das politische System der Türkei bindet und gleichzeitig der rechtsextremen MHP Stimmen nehmen kann.

Sie reduzierte die nationalistisch-islamistische Partei der Glückseligkeit zur politisch unbedeutenden Größe und integrierte gleichzeitig namhafte Linke und Sozialdemokraten in ihre Reihen. Sie ist heute für liberale Alewiten wählbar, und die kleinen christlichen Minderheiten Istanbuls haben längst jede Angst vor ihr verloren.

Trotz aller Schwächen ist die AKP die ausgleichende Kraft im Lande, die unterschiedliche Identitäten akzeptiert und auf die Produktion von Feindbildern nicht angewiesen ist. Sie ist der Ort, an dem Politik in Richtung auf Rechtsstaatlichkeit, wirtschaftliche und kulturelle Öffnung sowie auf Pluralismus gemacht wird. Und genau das macht sie für die Republik gefährlich.

Günter Seufert

© Qantara.de 2007

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