Mitbegründer des arabischen Surrealismus

Im Alter von 77 Jahren ist der libanesische Dichter Unsi al-Hadj am letzten Dienstag gestorben. Er zählte neben Adonis und Mahmoud Darwisch zu den Pionieren des modernen arabischen Gedichts. Ein Nachruf von Suleman Taufiq

Von Suleman Taufiq

"Ich werde nicht unter euch sein,

da die Feder von einem Spatz im sanften Frühling

meinen Kopf krönen wird.

Die Bäume der Kälte werden mich umarmen.

Eine Frau aus der Ferne wird mich beweinen.

Ihr Weinen ist so schön wie mein Leben."

Dieses Gedicht von Unsi al-Hadj war ein poetischer Abschied und markierte in seiner Radikalität deutlich den Bewusstseinswandel des arabischen Dichters im Laufe seines literarischen Schaffens.

Seit den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts  wird Unsi al-Hadjs Name in der arabischen Welt mit der Moderne in Verbindung gebracht.

Er wurde 1937 in Beirut geboren. Als Unsi al-Hadj sieben Jahre alt war, starb seine Mutter. Dieser Verlust hinterließ bei ihm eine Wunde, die seine gesamte Dichtung und sein Leben durchzog, wie er sagte. "Zuerst war ich zurückgezogen und einsam. Ich erinnere mich nur an kurze Momente aus jener Zeit: Ein Junge beschäftigt sich mit seinen eigenen Gedanken und inneren Stimmen. Vieles, was andere normal finden, stößt ihn ab. Ein Junge wird geliebt, und ist gleichzeitig voller Ängste".

Buchcover "Die Liebe und der Wolf. Die Liebe und die anderen" auf Deutsch
Poesie als universelle Erfahrung: Unsi al-Hadj gab der poetischen Sprache neue Begriffe, Metaphern und Bilder, die man vorher nur selten gelesen hatte.

Unsi al-Hadj liebte es, in der Nacht zu leben, zu schreiben und zu lesen. Tagsüber schlief er und entging so der Hektik und dem Getöse des Tages. "In meinem Leben gibt es einen Fehler, und die Fortsetzung davon ist daher auch ein Fehler", resümierte er einmal.

Epochaler Bruch mit der klassischen arabischen Poesie

Obwohl er schon früh Gedichte schrieb, veröffentlichte er seinen ersten Gedichtband "Lan" (zu Deutsch: "Nie") erst 1960. Das Buch sorgte damals nicht nur wegen seiner Gedichte für Furore. Vor allem das Vorwort von Al-Hadj, das das neu in die arabische Lyrik eingeführte Prosagedicht beschrieb, sorgte für Aufsehen. Der Gedichtband stellte die gesamte zeitgenössische arabische Lyrik auf den Kopf.

Al-Hadj brach nämlich sprachlich und inhaltlich mit allen Konventionen, die in der arabischen Kultur üblich sind und Bedeutung haben. Die Veröffentlichung seiner freier poetischen Texte, die die althergebrachten Traditionen offensichtlich missachteten und eine direkt an den Erfahrungen und Erlebnissen des Individuums orientierte Poesie dagegensetzten, löste in der arabischen Literatur eine Erschütterung aus, die man sich heute kaum noch vorstellen kann.

1956 begann Al-Hadj seine journalistische Laufbahn bei der Zeitung "Al-Hayat", wechselte dann zu "Al-Nahar", der größten libanesischen Tageszeitung. Bis Oktober 2003 war er ihr Chefredakteur. Er übersetzte viele französische surrealistische Autoren, wie beispielsweise Breton und Artaud. In den1960er Jahren war er Initiator der libanesischen Theater-Avantgarde-Bewegung und übersetzte damals viele Theaterstücke in sprachlich lebendige Theaterversionen u. a. von Ionescu, Arrabal und Camus. In den vergangenen Jahrzehnten lebte er bis zu seinem Tod in Beirut.

Literatur grenzenlos

Unsi al-Hadj gilt wohl als der einzige Surrealist in der arabischen modernen Lyrik. Seine Dichtung stellt vor allem eine Provokation dar und beschäftigt sich mit einer immer wiederkehrenden Meditation über die Liebe. In seiner Lyrik ist die Frau "das Land der Worte und ihr Raum".

Al-Hadj war mit Adonis, Jusuf al-Khal und Fuad Rifka Mitbegründer der legendären Zeitschrift "Schiir" (zu Deutsch: "Poesie"). Ziel der Zeitschrift war es, neue poetische Orte und Talente zu entdecken und zu fördern. Grundtenor der Zeitschrift war, dass der Dichter in seiner Poesie eine Position zu unserer Existenz und zu Gott einnehmen muss, zur Sprache, zur Zivilisation, zum Tod, zur Zeit und zu allen wichtigen Fragen des Daseins.

Der syrisch-libanesische Dichter Adonis; Foto: dpa
Der berühmte syrisch-libanesische Dichter Adonis sagte einst über Unsi al-Hadj, er sei "der Originellste unter uns gewesen".

Diese Zeitschrift gab Al-Hadj die Möglichkeit, seine Gedichte, die er sonst nirgends veröffentlichen konnte, zu publizieren. Dazu äußerte bemerkte er einmal: "Ohne die Zeitschrift 'Schiir' wäre ich nie Dichter geworden." Sein Freund und Kollege, der syrisch-libanesische Dichter Adonis, sagte einst über ihn, er sei "der Originellste unter uns gewesen".

Unsi al-Hadj hielt sich jedoch stets im Hintergrund und trat nur selten öffentlich in Erscheinung, anders als seine Kollegen bei "Schiir". Und dennoch wurden seine Artikel, Essays und Gedichte über die Grenzen der arabischen Welt hinaus bekannt.

Heute gibt es viele Nachahmer, die versuchen, so zu schreiben wie er. Er entwickelte neue ästhetische Mittel, die in der arabischen Lyrik bis dahin nicht üblich waren, und provozierte damit viele Literaturkritiker und Schriftsteller. Und er gab der poetischen Sprache neue Begriffe, Metaphern und Bilder, die man vorher nur selten gelesen hatte. Unsi al-Hadj vertrat die Ansicht, dass Literatur keine Grenzen kennt. Daher lehnte er alle Restriktionen formaler oder inhaltlicher Art, die man vorher in der arabischen Literatur kannte, strikt ab.

Poesie als menschliche und universelle Erfahrung

Dichtung war für ihn keine Angelegenheit des Moments, keine beschreibende Dichtung, keine Dichtung, die einen flüchtigen emotionalen Augenblick festhält oder eine bestimmte ideologische oder politische Meinung zum Ausdruck bringt. Für Unsi al-Hadj war die Poesie eine menschliche, eine universelle Erfahrung, die zeitlos ist: "Jede Erschütterung, die ein Dichter in jemandem auslöst, erschafft einen neuen Menschen."

Neue an seiner Poesie war, das der Dichter kein Sprachrohr einer anderen Person oder ein Diener starrer Traditionen ist, sondern ein individueller Mensch, der eigene Vorstellungen über die Existenz besitzt und in der Lage ist, sein Leben selbst zu verändern.

Der Bürgerkrieg im Libanon ließ ihn verstummen. In dieser Zeit schrieb er nur noch Essays. "Ich habe keine Heimat", sagte er einmal. Die Heimat Libanon gab es für ihn nur noch in der Vergangenheit. Und danach lebte er "im Land des zweiten Ursprungs, jenseits des Endes."

Unsi al-Hadj war bekannt für seine Notizen und Gedanken über das menschliche Leben, Gedanken zur Liebe, zum Tod, zur Angst, zum Traum, zur Einsamkeit, zum Glauben und zum Unglauben, zur Erotik, zur Hoffnung oder aber auch zur Hoffnungslosigkeit. In einem Gedicht schrieb er: 

* * *

"Sagt, das ist meine Verabredung, schenkt mir die Zeit,

alle werden Zeit haben, nur Geduld,

habt Geduld, bis ich meine Prosa gesammelt habe. 

Euer Besuch geschieht in Eile, doch meine Reise ist lang.

Eure Blicke sind wie Blitze, und meine Blätter sind verstreut.

Sommer ist eure Liebe, und meine Liebe ist die Erde."

* * *

Suleman Taufiq

© Qantara.de 2014

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de