Überschätzte Religion
Im Berlin der 1990er Jahre trugen Projekte mit Migrantenjugendlichen gerne Namen wie "Disko und Döner". Damals setzte man auf kulturelle Differenz, aber auf eine Differenz, die durchaus etwas Schmackhaftes hatte, insbesondere für Einheimische. So wie Döner eben.
Dem "Multikulti" jener Tage ist durchaus zurecht vorgeworfen worden, dass sein unausgesprochenes Zentrum die Imbissbude oder das Restaurant war. Heute nun ist die Stimmung in der Öffentlichkeit umgeschlagen. Der Multikulturalismus ist zum "Watschenmann" geworden.
Naiv seien seine Vertreter gewesen, hört man nicht nur von konservativer Seite, gefährlich naiv, denn das multikulturelle Modell habe die Entstehung von "Parallelgesellschaften" befördert.
Zauberwort Integration
Das Zauberwort lautet wieder "Integration". Was dieses Wort genau bedeutet, das bleibt im Großen und Ganzen aber ziemlich unklar. Wenn man nun einen genauen Blick auf die Debatten rund um das Thema "Integration" wirft, dann zeigen sich überraschende Ähnlichkeiten zu den inkriminierten "Multikulti"-Konzepten.
Tatsächlich gibt es ein neues "Multikulti", wobei dessen Zentrum mit käuflichen Genüssen nichts zu tun hat, sondern vielmehr mit geistigem Halt: Es ist die Kirche, genauer gesagt: die Moschee.
Nicht umsonst ist der zentrumsnahe Moscheebau von Köln zum nationalen Politikum geworden. Wenn es um die Einwanderungsgesellschaft geht, dann wird über kaum etwas mehr gesprochen als über den Islam. Das Schicksal der "muslimischen Frau" ist ein Dauerbrenner.
Muslime als Juniorpartner der christlichen Religionen
Das Verhältnis von Islam und Terror ist ein Gegenstand von schier unerschöpflichen Debatten. Und in einem eigens anberaumten "Islamgipfel" soll die zukünftige Rolle "der Muslime" in der Gesellschaft geklärt werden.
Trotz aller Widerstände ist die Einbeziehung "der Muslime" eine beschlossene Sache. Sie sollen eine Art Juniorpartner der christlichen Religionen werden – nicht auf Augenhöhe, aber zumindest symbolisch sichtbar etwa auf der Ebene der Architektur.
Dabei bleibt der Islam eine Religion auf dem Prüfstand. Während die christlichen Kirchen als modern und säkular gelten, steht der Islam unter historischem Vorbehalt: "Der Islam hat es 1400 Jahre lang versäumt, kritische Fragen zu stellen und sich von der Politik zu lösen", meint etwa die "Islamkritikerin" Necla Kelek.
In diesem Sinne werden Muslime dazu aufgefordert, sich blasphemische Theaterstücke anzuschauen oder gar eine Lesung von Salman Rushdies Satanischen Versen in einer Moschee zu veranstalten.
Mit zweierlei Maß
Dass hier mit zweierlei Maß gemessen wird, ist offensichtlich, denn niemand würde von einer katholischen Gemeinde verlangen, doch einmal den Kirchenkritiker Karl-Heinz Deschner einzuladen.
Schließlich stellt sich die Frage, wer das eigentlich sein soll: "die Muslime". Oft hat man in letzter Zeit in den Medien gehört, dass in Deutschland "etwa zwei bis drei Millionen" Muslime leben.
Tatsächlich sind aber nicht einmal 20 Prozent "der Muslime" organisiert – alle anderen werden, selbst wenn sie strikte Atheisten sind, einfach zu Muslimen erklärt. Im Umkehrschluss werden die anderen 80 Millionen Menschen zu Christen in einem christlichen Land.
Am Multikulturalismus der 1980er Jahre ist auch kritisiert worden, dass er alle Einwohner des Landes letztlich zu Repräsentanten ihrer Kultur erklärte – und das, obwohl wir in einer Gesellschaft leben, die sich in einem fortgesetzten Prozess der Enttraditionalisierung befindet.
Unterdessen werden wir nun alle zu Vertretern "unserer" Religion. Das aber ist mindestens ebenso weltfremd, denn trotz einiger erfolgreicher Megaevents - wie dem Kirchentag - verlieren die christlichen Kirchen weiterhin an Bedeutung.
Ausgeblendete wirtschaftliche Situation von Einwanderern
Während nun eifrig über "die Muslime" debattiert wird, verschwinden einige Probleme struktureller Art ganz einfach aus dem Blickfeld: die rechtliche und wirtschaftliche Situation von Einwanderern spielt so gut wie keine Rolle.
Mark Terkessidis
ist promovierter Psychologe und arbeitet als Journalist und Autor mit den Themenschwer-punkten Popkultur, Migration und Rassismus. Er ist Mitbegründer des "Institute for Studies in Visual Culture" in Köln.
So sind in den letzten Jahren die Erleichterungen bei der Einbürgerung mit so immensen Einschränkungen versehen worden, dass immer weniger Personen sie erfüllen können – oder auch wollen. Benachteiligungen im Bereich der Bildung werden äußerst halbherzig bekämpft.
Was die horrende Arbeitslosigkeit betrifft, so findet man im "Nationalen Integrationsplan" eine Orgie von Absichtserklärungen: Da ist die Rede davon, das man sich "einsetzt", dass man das "Engagement intensiviert" oder ein "Konzept entwickelt". Konkrete Maßnahmen gibt es nur wenige.
Zudem fallen die spezifischen Schwierigkeiten anderer Einwanderergruppen unter den Tisch: Der extrem hohe Anteil von Schülern serbischer Herkunft auf der Sonderschule; die Bildungskatastrophe der Personen mit italienischem Hintergrund oder die unproportional hohe Arbeitslosigkeit der griechischen Einwanderer, trotz guter Bildungsabschlüsse.
"Kulturkampf"-Szenarien
Letztlich entwerfen die religiösen Zuschreibungen permanent das Szenario eines "Kulturkampfes". Und da ist es kaum verwunderlich, dass die Zuschreibungen vor allem auf Seiten der Minderheit Wirkung erzielen.
Eine Reihe von Umfragen zeigt, dass Personen türkischer Herkunft sich zunehmend als religiös definieren, obwohl diese Selbstdarstellung nicht mit entsprechendem Verhalten einhergeht: Der überwiegende Teil besucht auch weiterhin keine Moschee.
Wenn man sich das Beispiel von Ländern wie Großbritannien anschaut, dann lässt sich eines deutlich sagen: Mit der derzeitigen Mischung aus Betonung von religiöser Differenz und fortgesetzter Diskriminierung und wirtschaftlicher Ausgrenzung ist man nicht gut beraten. Es sei denn, der "Kulturkampf" kommt einem gerade recht.
Mark Terkessidis
© Qantara.de 2007
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