Die Geister, die ich rief
In der letzten Woche überschlugen sich die Ereignisse fast stündlich: Die Taliban überrannten ungebremst eine afghanische Provinz nach der anderen und konnten Kabul praktisch ohne Gegenwehr einnehmen – zur Überraschung der maßgeblichen Akteure. Die afghanischen Sicherheitskräfte hatten sich praktisch aufgelöst. Ein derartiges Versagen der afghanischen Armee, die in den letzten zwanzig Jahren mit Milliarden von Dollar aufgebaut und ausgerüstet worden war, schockierte alle Beobachter – am meisten aber die Afghanen selbst. Präsident Aschraf Ghani floh aus dem Land und machte den Weg frei für eine Machtübernahme der Radikalen.
Obgleich die Folgen dieser Entwicklung für die Region noch nicht absehbar sind, steht schon fest, dass Pakistan neben den Taliban der zweite Sieger in diesem Konflikt ist. Vorerst zumindest, denn Stand heute ist schwer einzuschätzen, wie sich die Machtübernahme der Taliban auf die pakistanische Gesellschaft auswirken wird. Genau das ist die Krux.
Seit einigen Monaten schon werfen afghanische Regierungsmitglieder Pakistan vor, die Taliban aktiv bei ihrem Vormarsch zu unterstützen. Auf einer Regionalkonferenz in Usbekistan kam es zu einem ungewohnten öffentlichen Schlagabtausch zwischen dem afghanischen Präsidenten Ghani und dem pakistanischen Premierminister Imran Khan. Khan reagierte sichtlich verärgert auf den Vorwurf Ghanis, Pakistan schleuse tausende Taliban-Kämpfer nach Afghanistan ein. Khan beteuerte, sein Land habe mit den Entwicklungen in Afghanistan nichts zu tun und sei an einer friedlichen Lösung des Konflikts interessiert. Schließlich könne ein Bürgerkrieg im Nachbarland und ein neuer Zustrom afghanischer Flüchtlinge auch Pakistan destabilisieren.
Zwar mag diese Einschätzung zum Teil stimmen und sicherlich hat Pakistan nicht tausende Taliban eingeschleust, aber es ist nicht abzustreiten, dass das pakistanische Establishment enge Beziehungen zu den Taliban pflegt, wenn auch mit abnehmendem Einfluss. Mit dem Einmarsch der Taliban in Kabul ergreift nach zwanzig Jahren wieder ein „pro-pakistanisches“ Regime die Macht. Anders als früher wirken diesmal neben Pakistan auch andere Akteure aus der Region aktiv an der Gestaltung eines post-amerikanischen Afghanistans mit.
Die Taliban und die Anrainerstaaten
Spätestens seitdem die USA direkte Verhandlungen mit den Taliban aufnahmen und ihren Rückzug ankündigten, war selbst den größten Skeptikern klar, dass die Taliban ein wesentlicher Machtfaktor in Afghanistan sind und dass der Konflikt militärisch nicht lösbar ist.
Um ein Übergreifen des Konflikts auf die Nachbarländer zu verhindern, ist eine gewisse Stabilität Afghanistans im Sinne aller Anrainerstaaten. Neben Pakistan versuchen daher Iran, China und Russland das Machtvakuum zu füllen. Die Taliban-Vertreter führten in den letzten Monaten mit diesen Ländern bilaterale Verhandlungen und konnten anscheinend eine gewisse Übereinkunft über eine Anerkennung ihres Regimes erzielen.
So möchte beispielsweise China seinen Nachbarn Afghanistan als wichtiges Transitland in seine „Belt and Road Initiative“ integrieren. Mit einer stabilen Regierung, selbst wenn diese von den radikalen Taliban gestellt werden sollte, wäre für China die Umsetzung des Infrastrukturprojekts einfacher. China möchte zudem von den Taliban die Garantie, dass sich keine uigurischen Widerstandskämpfer aus dem chinesischen autonomen Gebiet Xinjiang, das unmittelbar an Afghanistan grenzt, auf afghanischem Boden festsetzen können.
Für Russland ist die Sicherheitslage in Zentralasien und die Eindämmung lokaler Terrorgruppen von zentraler Bedeutung. Moskau fürchtet eine Destabilisierung der zentralasiatischen Republiken und führte deshalb direkte Gespräche mit den Taliban, obwohl Moskau die Gruppe offiziell als Terroristen einstuft. Ähnlich verhält es sich mit dem Iran, der sunnitische Terrororganisationen im Osten des Landes bekämpft und ein Erstarken des IS in Afghanistan verhindern will. Der Iran betrachtet sich außerdem als Schutzmacht der afghanischen Schiiten und ist darum bemüht, deren Sicherheit zu gewährleisten.
Für Pakistan sind gleichzeitig mehrere geopolitische Faktoren von Interesse: Islamabad will, dass die Taliban ihren pakistanischen Ableger TTP (Tehrik-i-Taliban Pakistan) in Schach halten und daran hindern, von Afghanistan aus Anschläge zu verüben. Schließlich konnte die pakistanische Armee die TTP erst nach mehreren verlustreichen Militäroperationen aus den Stammesgebieten an der Grenzregion vertreiben. Eine Rückkehr der TTP wäre für die Sicherheitslage im Land fatal.
Auch Separatisten aus der pakistanischen Provinz Belutschistan fanden in Afghanistan Schutz und operierten von dort aus relativ frei. Anschläge belutschistanischer Freischärler sind die größte Bedrohung für den China-Pakistan Economic Corridor (CPEC), ein ambitioniertes Projekt, mit dem Islamabad und Peking ihre Zusammenarbeit über die Entwicklung von Transport- und Energieinfrastrukturen u. a. mit Transitrouten durch Afghanistan verbessern wollen. Über die Häfen von Gwadar und Karatschi hätte man direkten Anschluss an den Welthandel. Dies alles wäre unter den Taliban einfacher umzusetzen.
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Am wichtigsten aber ist für Pakistan der Umstand, dass mit der Machtergreifung der Taliban der Einfluss Indiens in Afghanistan weitgehend zurückgedrängt wird. Indien konnte in den letzten Jahren mit Investitionen und Projekten seinen Einfluss merklich ausbauen, was Islamabad stets misstrauisch beäugte. In der Sicherheitsdoktrin Pakistans spielt die Sicherung der Westgrenze eine zentrale Rolle. Ein Feind an der westlichen Flanke käme einer Umzingelung gleich. Das zu vermeiden, hat hohe Priorität auf den Machtkorridoren Islamabads.
Den Taliban kam die pakistanische Unterstützung ebenfalls zugute, auch wenn viele ihrer Anführer nach 2001 in Pakistan festgesetzt worden waren. Geflohene Taliban-Kader und ihre Familien fanden im pakistanischen Quetta oder Karatschi Unterschlupf. Zwischen dem pakistanischen Establishment und der Talibanführung bestand stets ein reger Kontakt, wodurch Pakistan die Talibanführung dazu drängen konnte, sich mit den Amerikanern an einen gemeinsamen Verhandlungstisch zu setzen. Zwar ist Islamabads Einfluss auf die Gruppe gesunken, dennoch profitieren beide Seiten weiter voneinander.
Befürchtete Radikalisierung in Pakistan
In Pakistan gibt es aber auch eine andere Sichtweise: Angesichts der Machtergreifung der Taliban befürchten viele eine fortschreitende Radikalisierung der eigenen Gesellschaft. Denn religiöse Parteien und Elemente des Establishments sympathisieren in Pakistan offen mit den Taliban. Sie alle betrachten den Sieg der Bewegung als Bestätigung ihrer Politik. So beglückwünschte Fazal ur-Rahman, der Anführer der islamistischen Partei Jamiat Ulema-e-Islam (JUI), den Anführer der Taliban, Hibatullah Achundsada, zu seinem Sieg.
Ideologisch sind die Taliban und die JUI der puritanischen Deobandi-Denkschule zuzuschreiben. Die Deobandi-Bewegung wähnt sich jetzt im Aufwind und erhofft, wieder mehr Einfluss zu gewinnen – insbesondere im Wettlauf mit der orthodox-sunnitischen Barelwī-Bewegung. Spannungen zwischen den beiden sunnitischen Denkrichtungen werden in Zukunft vermutlich zunehmen. Religiöse Minderheiten und liberale Kräfte befürchten ohnehin zunehmende Repressalien, wenn die radikalen Kräfte gesamtgesellschaftlich an Bedeutung gewinnen.
Pakistan könnte dann wieder von einer Spirale der Gewalt heimgesucht werden, wie zuletzt Anfang der 2000er Jahre. Erste Anzeichen dafür gibt es bereits: Der weitgehend als zerschlagen geltende Ableger der Taliban in Pakistan, die TTP, meldete sich Anfang 2021 mit mehreren spektakulären Anschlägen zurück. Im April verübte die Gruppe einen Anschlag auf das stark gesicherte Serena Hotel in Quetta, der dem chinesischen Botschafter galt. Ob die Taliban wirklich die TTP kontrollieren können, ist mehr als fraglich, wenn man sich die lose Organisationsstruktur der Gruppierung vor Augen führt.
Noch ist es zu früh, die Auswirkungen verlässlich zu prognostizieren. Die nächsten Monate bleiben daher spannend. Fest steht jedoch, dass die Geister des Radikalismus wieder zurückgekehrt sind in eine Region, die ohnehin von Instabilität geplagt ist.
© Qantara.de 2021
Mohammad Luqman hat am Centrum für Nah- und Mittelost-Studien der Universität Marburg Islamwissenschaft mit einem besonderen Forschungsschwerpunkt auf Islam in Südasien studiert. Er promoviert zurzeit an der Universität Frankfurt zum Verhältnis von Religion und Nationalismus in Pakistan.
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