Unverheiratet unter einem Dach
Der Iran ist ein Gottesstaat. Das islamische Recht ist allgegenwärtig und die Regierung setzt es mit drakonischen Strafen durch. Aber die strengen Gesetze kollidieren oft mit der Lebenswirklichkeit der Menschen. Vor allem junge Iranerinnen und Iraner suchen Wege, die ihren eigenen Lebensvorstellungen mehr entsprechen.
Für unverheiratete Paare ist es verboten, zusammen in einer Wohnung zu leben. Dennoch leben besonders in größeren Städten und im studentischen Umfeld immer mehr junge Männer und Frauen zusammen. Ein Mitarbeiter des Teheraner Stadtrates äußerte sich kritisch über diese "neue gesellschaftsschädliche Entwicklung", wie die iranischen Nachrichtenagentur IRNA berichtet.
Atefeh ist 22 Jahre alt und studiert Entwicklungsingenieurswesen in Amol, einer kleinen Stadt im Norden des Irans. Seit zwei Jahren wohnt sie dort mir ihrem Freund zusammen, wie sie berichtet: "Das weiß natürlich nicht jeder, dass er eigentlich bei mir wohnt. Unsere Freunde wissen das, aber die meisten meiner Freunde leben ja auch mit ihren Partnern zusammen."
Unter den Augen der Nachbarn
Der Umgang mit unverheirateten Lebensgemeinschaften ist im Iran nicht gesetzlich geregelt. Allerdings stehen außereheliche sexuelle Beziehungen unter Strafe. Den "Schuldigen" drohen Auspeitschung oder mehrjährige Inhaftierungen. Dennoch sagt Atefeh: "Das Risiko gehen wir ein."
Meist sind es Nachbarn oder regierungstreue Bürger, die ein Auge darauf haben, wer im Haus ein- und ausgeht. Sie informieren bei Verdacht die Eltern oder die Behörden. Ihre Eltern fürchtet Atefeh allerdings nicht: "Meine Eltern wissen Bescheid, daher habe ich nicht soviel Angst wie die meisten meiner Freunde, deren Familien das nicht wissen." Aber die Angst vor Denunzianten ist allgegenwärtig: "Wir sind immer sehr wachsam und vorsichtig. Wenn wir das Haus verlassen, achten wir immer darauf, dass möglichst keiner etwas merkt."
Eine stille Revolution
Der in Paris arbeitende Soziologe Said Peyvandi bezeichnet diese neue Form des Zusammenlebens als "Grauzone der iranischen Gesellschaft", die im Widerspruch zu offiziellen Vorgaben und traditionellen Familienwerten existiere. Mit Blick auf die gesellschaftliche Entwicklung der letzten 25 Jahre stellt er fest: "Es hat eine stille demographische und soziale Revolution stattgefunden."
Der Wandel der letzten 25 Jahre sei an drei Phänomenen besonders gut ablesbar: Am starken Rückgang des Bevölkerungswachstums, am gestiegenen Durchschnittsalter bei der ersten Eheschließung und an der Entwicklung zur Kleinfamilie. Nie zuvor waren so viele junge Menschen ledig. Nicht zuletzt steige die Scheidungsrate stark an.
Sahebe ist 26 Jahre, hat Architektur studiert und arbeitet in Teheran als Tischlerin. Sie lebt seit vier Jahren alleine und hat zwischendurch auch mit ihren jeweiligen Partnern zusammengelebt.
Ganz so einfach sei das aber nicht: "Das Problem ist, dass unsere Gesellschaft irgendwo zwischen Moderne und Tradition stehengeblieben ist", sagt sie. "Einerseits scheinen wir nach außen sehr modern und leben in wechselnden Beziehungen. Andererseits sitzen in uns drin immer noch die traditionellen Muster und Denkweisen, nach denen wir erzogen wurden. Das führt oftmals zu Konflikten."
Zum Beispiel dann, wenn die Familie des Freundes sich in die Beziehung ihrer Söhne einmische. Und gerade die seien tief im Innern oft sehr traditionell geprägt.
Das bestätigt auch Puyan, der in Teheran als Filmcutter arbeitet. "Ich habe mit meiner Freundin zusammengelebt, gegen den Willen meiner Familie", berichtet er. "Die konnte das nicht akzeptieren, und das beeinflusst einen natürlich schon noch." Der 29-Jährige glaubt, dass Paare in freieren Ländern wahrscheinlich eher zusammenziehen, um ihre gemeinsame Zukunft zu gestalten.
"Bei uns im Iran stehen dagegen oft die in unserer Gesellschaft 'verbotenen' Motive Vergnügen und Sex im Vordergrund." Und selbst wenn das nicht der Fall sei, sei die Beziehung von außen eben so abgestempelt.
Unumkehrbarer Trend
Versuche seitens der Regierung, dem Trend zum Zusammenleben ohne Trauschein entgegenzuwirken, sind dem Soziologen Peyvandi zufolge aussichtslos. "Zu groß ist das Bedürfnis der jungen Generation nach Freiheit und Unabhängigkeit."
Atefeh ist sehr froh über diese Entwicklung. Allen Risiken und Hindernissen zum Trotz genießt sie ihre relative Unabhängigkeit: "Ich glaube, den Regierenden ist dieser Trend durchaus bekannt und vielleicht tolerieren sie das auch ein Stück weit bewusst. Es gibt so viele andere Probleme in unserem Land, da sind sie vielleicht sogar ganz froh, dass wir uns mit solchen Dingen die Zeit vertreiben, anstatt auf andere Ideen zu kommen."
Yalda Zarbakhch
© Deutsche Welle 2013
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de