Unheilvolle Allianz von Klerikern und Staatsmännern
Wissenschaftler aller Couleur bescheinigen der islamischen Welt eine tiefe Krise. Gewalt, Autoritarismus und sozioökonomische Unterentwicklung stechen dabei ins Auge. Über die Ursachen sind sich die Forscher dagegen alles andere als einig.
Die einen meinen, der Islam als Religion sei gewaltverherrlichend, menschenverachtend und nicht zivilisationsfähig, daher zurückgeblieben. Andere sehen den Grund für die Misere in der westlichen Kolonialisierung, mit der alle politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Ressourcen der muslimischen Welt so ausgebeutet wurden, dass sie sich davon bis heute nicht erholen konnte.
Ahmet T. Kuru, ein türkischstämmiger US-amerikanischer Professor der Politikwissenschaften kommt in seinem Buch, „Islam, Authoritarianism, and Underdevelopment“ zu einem anderen Ergebnis, warum die islamische Welt nach einer atemberaubenden goldenen Zeit im Mittelalter heute das Schlusslicht der Welt bildet, wenn es um Demokratie, wirtschaftlichen Fortschritt, soziale Gerechtigkeit, Bildung und Menschenrechte geht.
Kurus These zufolge habe hauptsächlich eine unheilige Allianz von Religionsgelehrten und Staatsmännern den Autoritarismus und die Rückschrittlichkeit der muslimischen Welt zu verantworten.
Damit widerspricht Kuru der unter Islamfeinden weitverbreiteten These, der Islam sei schuld an der Misere der islamisch geprägten Länder. Denn dieselbe Religion habe zwischen dem 8. und 12. Jahrhundert eine Zivilisation ohnegleichen hervorgebracht. In dieser Epoche wurde die islamische Welt zum Zentrum von Aufklärung, Wissenschaft, Forschung, Kunst und Kultur.
Kuru erteilt auch der teilweise romantisierenden Kolonialisierungsthese eine Absage, wonach der Westen ab dem 19. Jahrhundert hauptsächlich für die heutige Misere im Orient verantwortlich sei. Er sieht die Kolonialisierung als eine Folge und einen Verstärker der ohnehin bestehenden politischen und sozioökonomischen Probleme in der muslimischen Welt.
Kuru bestreitet auch, dass Kreuzzüge und Mongolensturm den Abwärtstrend bewirkt hätten. Er konstatiert stattdessen, die Muslime hätten sich militärisch und politisch schnell von diesen verheerenden Zerstörungen erholt, allerdings ohne danach nennenswerte Beiträge zu Wissenschaft und Forschung geleistet zu haben. Damit bleibt für Kuru die unheilige Allianz von Gelehrten und Staatsmännern als Hauptursache für den Abstieg bestehen.
Das Ende des goldenen Zeitalters
Die islamische Welt erlebte zwischen dem 8. und dem 12. Jahrhundert ihr goldenes Zeitalter. Zwei soziale Klassen werden hier als Motor von Aufklärung, Wissenschaft und Zivilisation hervorgehoben: Intellektuelle und Händler. Die Intellektuellen (Wissenschaftler, Philosophen und Gelehrte) waren finanziell unabhängig oder konnten auf die großzügige Unterstützung der Händler zählen. Entsprechend war der Markt der Ideen von lebhafter Vielfalt und Konkurrenz geprägt.
Doch die Dynamik änderte sich allmählich ab Mitte des 11. Jahrhunderts mit einer langanhaltenden Wirtschaftskrise. Die Dynastie der Abbasiden (750-1258) reagierte darauf mit Zuteilung von Land (Iqṭāʿ) an Soldaten, was zum Aufstieg eines grundbesitzenden Militäradels als neuer Herrscherklasse führte.
Die türkischen Reiche der Seldschuken und später Osmanen haben die Militarisierung des Staatsgefüges fortgesetzt. Dies sollte weitreichende Folgen für Händler und Intellektuelle haben. Intellektuelle gerieten mit der Schwächung der Händlerklasse in finanzielle Nöte. Zeitgleich errichteten die Seldschuken die staatlichen Nizamiyya Madrasas (Universitäten), womit die Gelehrten nach und nach in den Staatsdienst traten.
Der Islamgelehrte Al-Ghazālī (1055-1111) verfestigte als prominentester Vertreter der Nizamiyya die Vorstellung, Staat und Religion seien Zwillinge. Damit war die Geburtsstunde der Allianz von orthodoxen Gelehrten und Staatsmännern eingeläutet, die eine intellektuelle Stagnation zur Folge hatte.
Quasi-Trennung von Staat und Religion
Was war aber der Grund dafür, dass über 90 Prozent der Gelehrten während der ersten fünf Jahrhunderte islamischer Geschichte auf einer Quasi-Trennung von Staat und Religion beharrten? Kuru nennt dazu die traumatisierende Wirkung der muslimischen Bürgerkriege (Kamelschlacht 656, Schlacht von Siffin 657), die in der Errichtung einer Erbmonarchie mündeten und in der Verfolgung der Prophetennachkommen gipfelte. Weder unter den Umayyadan (660-750) noch unter den Abbasiden waren Gelehrte bereit, ihre Autonomie aufzugeben, auch wenn sie wie Abū Hanīfa (699-767) oder wie Ibn Ḥanbal (780-855) eingesperrt und gefoltert wurden.
Die islamisch geprägten Länder heute sind weit über dem Weltdurchschnitt von Kriegen und Krisen, von Unrecht und Rückständigkeit betroffen. Reaktionäre Lesearten des Islam, die durch die Kolonialisierung verschärft wurden, haben überhandgenommen.
Wie es dazu kommen konnte, erklärt Kuru anhand der Haltung der militärischen und religiösen Eliten in den islamischen Reichen. So wurde bspw. durch den massiven Widerstand der religiösen Eliten die Einführung des Buchdrucks in der islamischen Welt um ganze 280 Jahre verzögert.
Niedergang der Bildung
Das beschleunigte den Niedergang der Bildung so sehr, dass um das Jahr 1800 die Rate der lesekundigen Muslime im Osmanischen Reich gerade mal bei einem Prozent lag. In Westeuropa konnten zur gleichen Zeit 31 Prozent der Bevölkerung lesen und schreiben. Von diesem Bildungsrückstand hat sich die islamische Welt bis heute nicht erholt.
Warum es zum Aufstieg Europas bei gleichzeitigem Abstieg des Orients kommen konnte, erklärt Kuru damit, dass in Europa Militäradel und Geistlichkeit ihre Autorität mit einer aufstrebenden Intellektuellen- und Händlerklasse teilen mussten. In der islamischen Welt dagegen marginalisierte eine Allianz von Staatsmännern und Geistlichen die Intellektuellen und Händler.
Kuru unterstreicht jedoch, dass es zwischen westlichen und islamischen Ländern keine grundsätzlichen Unterschiede geben könne. Denn sie alle wären auf ein Zusammenspiel von vier Klassen angewiesen: Staat, Geistlichkeit, Intellektuelle und ökonomische Klasse.
Ein Land erlebe einen Zivilisationsschub, sobald Intellektuelle und ökonomische Akteure kreativ, produktiv und frei sind. Statt aber auf das Potenzial dieser Klassen zu setzen, erfolgten Reformen in der islamischen Welt seit dem 19. Jahrhundert autoritär, von oben, weshalb sie bisher keinen nachhaltigen Erfolg hatten.
Daran änderte sich auch nichts, als Staatsmänner reformunwillige Geistliche durch säkulare Bürokraten ersetzten. Als Widerstand gegen diese Reformbemühungen von oben formierten sich in Ägypten die Muslimbrüder, im Iran die islamische Revolution und zuletzt in der Türkei das populistisch-islamistische Regime. Sie alle stellten jeweils die Allianz von Staat und Religion wieder her.
Wie man es auch dreht und wendet, ohne intellektuelle und wirtschaftliche Freiheit können Reformen nicht fruchten. So wird die Geografie zum Schicksal.
Musa Bagrac
© Qantara 2020
Ahmet T. Kuru, Islam, Authoritarianism, and Underdevelopment. A Global and Historical Comparison, Cambridge University Press, New York 2019.