Das Vermächtnis von Edward Said
Herr Brennan, war es für Sie schwierig, Edward Said zu beschreiben?
Timothy Brennan: Eigentlich gar nicht. Fast jeder, der Said je begegnet ist, fühlte sich dazu gedrängt. Die Art, wie er bei öffentlichen Vorträgen seine Finger in die Luft stach, das ernste Gesicht, das er aufsetzte, um seine Nervosität vor laufenden Fernsehkameras zu verbergen, seine Vorliebe für Klatsch und Tratsch, der schwer einzuordnende Akzent seines vage europäisierten Englisch, das glühende Dunkel seiner Augen: Edward Said war ein freundlicher Mann, ein treuer Freund, aber auch einer, der drängen konnte, der immer mehr Informationen wollte und ungeduldig wurde, wenn man sie nicht umgehend liefern konnte.
Nie habe ich jemanden getroffen, der so wie er zwischen den Zeilen zu lesen vermochte. Er "las“ Menschen perfekt, was meiner Meinung nach mit seiner erstaunlichen Fähigkeit zusammenhing, die richtigen Entscheidungen (in Beruf und Privatleben) genau zum passenden Zeitpunkt zu treffen. Kein Thema war aber für Edward wichtiger als die Frage nach der Rolle des Intellektuellen im öffentlichen Leben.
Aber der Hang, Saids Präsentstion in der Öffentlichkeit zu beschreiben, stand bisweilen dermaßen im Fokus, dass die Würdigung seiner Ideen zu kurz kam.
Es ist die größere Herausforderung zu zeigen, wie seine Art, Romane zu lesen und literarische Theorien zu untersuchen, ihn dazu befähigt hat, ein fundierter Kritiker der Gesellschaft zu werden.
Sie haben bei Edward Said studiert. Wann haben Sie sich dazu entschieden, eine Biographie über Ihren ehemaligen Mentor zu schreiben? Hätten Sie jemals gedacht, dass sie derart viel Aufmerksamkeit erregen würde?
Brennan: Als ich mich an die Biografie machte, habe ich nicht sehr viel über meine Beziehung zu ihm als meinem Mentor nachgedacht. Im Gegenteil, für mich war er eine historische Figur, die ich durch einen glücklichen Zufall kennenlernen durfte. Was auch immer die Verdienste des Buchs sein würden, ich konnte nicht sicher sein, dass fast zwei Jahrzehnte nach seinem Tod eine breite Leserschaft daran Interesse finden würde.
Selbstverständlich freue ich mich über die Aufmerksamkeit für die Biografie, doch ich vermute, der Rummel geht hauptsächlich auf den Protagonisten zurück. Edward Said ist weiter wichtig. Er hat den Umbruch über mehrere Generationen überlebt; er war seit jeher gut im Internet vertreten und viele seiner öffentlichen Vorträge, Fernsehauftritte und Filme (sowohl von ihm selbst als auch über ihn) findet man online, sodass er in diesem Sinne immer noch "lebendig“ ist.
Ein Intellektueller mit vielen Facetten
Mit Blick auf die Rezensionen zu Ihrem Buch sagte der Autor und Literaturkritiker Kaleem Hawa in einem Interview mit Ihnen für das Magazin The Nation, viele hätten Edward Said nicht verstanden und insbesondere versucht, seine Ansichten über Palästina zu ignorieren. Warum ist das Ihrer Meinung nach so?
Brennan: Edward Said’s Fans sahen nur eine Seite von ihm und ignorierten die anderen Facetten. Manche Leser kennen nur seine Ansichten über Palästina, ohne zu wissen, was er über Oper, Klavierspiel, Chomskys generative Transformationsgrammatik oder "imaginierte Geographien“ geschrieben hat (um nur einige seiner Interessensgebiete zu nennen). Ich kann mir vorstellen, dass die Israel-Palästina-Frage für einige Leute deprimierend ist. Sie ist zum Sinnbild für ein unlösbares Problem geworden. Der palästinensisch-israelische Konflikt betrifft eine unterdrückte, entwurzelte und besetzte Bevölkerung, während die Gegenseite einen Großteil der Öffentlichkeit geschickt dazu bringt, die bloße Existenz dieses Problems zu leugnen.
Jeder weiß um die Risiken, die Äußerungen zum Thema Israel und Palästina mit sich bringen – zumindest in den Vereinigten Staaten. Die Medien, die Regierung und die akademische Welt strafen in der Regel diejenigen ab, die den Zionismus kritisieren oder Übergriffe des israelischen Staates benennen. Damit wollen sich viele Menschen nicht belasten und andererseits befürchten sie auch Repressionen. Edward Said konnte sein Publikum jedoch mitreißen und verlangte in Vorverhandlungen oft, zwei Vorträge halten zu dürfen – beispielsweise einen über Musik oder Literatur und den anderen über das palästinensische Dilemma. In seiner Anwesenheit wurde es schwieriger, Palästina zu ignorieren.
In einer Seminararbeit rang Edward Said einmal damit, wie er sich selbst definieren könnte und schrieb: "Ein Levantiner zu sein bedeutet, in zwei oder mehr Welten gleichzeitig zu leben, ohne einer von beiden anzugehören...“. In der Interviewsammlung "Power, Politics, and Culture“ wird er mit den Worten zitiert: "Mich bestimmt seit jeher das starke Gefühl, zwischen den Kulturen zu stehen. Dieses Gefühl zieht sich wie ein roter Faden durch mein gesamtes Leben.“ Würden Sie dem zustimmen?
Brennan: Ich würde dem durchaus zustimmen, möchte die Formulierung "zwischen den Kulturen“ aber breiter verstanden wissen. Dieses Gefühl bezieht sich nicht nur auf ethnische Zugehörigkeit oder nationale Herkunft, sondern auf eine existenzielle Rastlosigkeit – sowie auf ein Zerrissensein zwischen radikalen (sogar revolutionären) Fantasien und dem Bedürfnis, vom Establishment anerkannt und honoriert zu werden. Dies war ein Schwachpunkt bei ihm.
Said kam in Jerusalem als amerikanischer Staatsbürger zur Welt. Während seiner Zeit in Kairo galt er als "Amerikaner“. Als er mit 15 Jahren in die Vereinigten Staaten einreiste, fehlten ihm die typischen kulturellen US-amerikanischen Prägungen jedoch fast vollständig. Er sprach nicht einmal amerikanisches Englisch. Seine Ausbildung war zu 100 Prozent vom britischen Empire geprägt. Ursprünglich sollte der Titel seiner Memoiren "Out of Place“ anders heißen, nämlich "Not Quite Right“, was auf ein breiteres Verständnis von seiner inneren Zerissenheit anspielt.
Leben im "Dazwischen"
Seine Exilerfahrung lässt sich nicht darauf beschränken, dass er nicht in Palästina leben konnte. Er war einfach nirgendwo zu Hause in dem Sinne, dass er innerlich i im Aufruhr befand und sich nicht an Konventionen hielt. So räumte er später ein, er könne nicht als Exilant in dem Sinne wie politische Flüchtlinge oder die 1948 aus Palästina Vertriebenen gelten.
Doch solche Äußerungen haben ihn als Palästinenser auch politisch authentisch macht. Er war fern vom alltäglichen Leben im von ihm imaginierten Palästina, aber er verliert dadurch nicht an Authentizität – man denke an seine poetischen Reflexionen zu Jean Mohrs Fotografien von Palästinensern in den besetzten Gebieten in After the Last Sky - Palestinian Lives. Denn die Erfahrung, Palästinenser zu sein, besteht doch größtenteils darin, Palästina zwangsweise aus der Ferne zu sehen, also aus der Distanz als einen Ort der eigenen Imagination zu verstehen (auf diese Tatsache spielt auch Mahmoud Darwish in seinem Gedicht "An Exile's Letter“ an).
Edward Said lebte in mehrfacher Hinsicht in einem "Dazwischen“. Viele Menschen wollten täglich etwas von ihm: UN-Einrichtungen, die japanische Presse, Anti-Kriegs-Veteranen und viele mehr. Wie muss es gewesen sein, alle diese Bälle gleichzeitig im Spiel zu halten, wenig Zeit zum Lesen oder Schreiben zu haben und deshalb so schreiben zu müssen wie Mozart komponierte – flüssig und ohne Nachbearbeitung?
Er gab morgens einen Kurs zu Jane Austen und schrieb eine Stunde später eine polemische Antwort auf die Verzerrungen der umstrittenen Journalistin Judith Miller, bevor er sich auf den Weg zu den Studios von CBS machte, um an einer Diskussionsrunde mit Jeane Kirkpatrick teilzunehmen. Auch das ist in meinen Augen eine Form des gelebten "Dazwischen“.
In Ihrer Biografie haben Sie offengelegt, dass Said an einem Roman arbeitete. Sie schreiben, "die Fragmente des Romans geben einen wertvollen Einblick in seine ästhetischen Vorstellungen“. Offenbar war seine belletristische Arbeit mit seinen politischen und intellektuellen Schriften verbunden. Hat es Sie überrascht, dass er Belletristik schrieb, die ihm offenbar am Herzen lag?
Brennan: Ich war überrascht, wie gut sie war. Edward war in unterschiedlichen Medien präsent, was ihn viel Energie kostete: Er schrieb Essays, Bücher, Zeitschriftenartikel und machte Kollagen von Fotografie und Text, drehte Filme, gab Klavierdarbietungen. Er war ein Multitalent, Dozent, Impresario, Schauspieler, Organisator und Gastgeber von Diskussionsrunden. Er wollte die verschiedenen Aspekte seiner Persönlichkeit an zahlreichen Schauplätzen und in vielfältigen Rollen einbringen.
Ihm war es wichtig, in der Vorstellung der Menschen nicht auf einen zornigen Polemiker reduziert zu werden, der immer die gleiche Tonart anschlägt. Ich könnte mir denken, dass er in deshalb auch mit Belletristik experimentierte, obwohl mehr dahintersteckte.
Seinen ersten Roman begann er bereits, als er ein Jahr zwischen College und weiterführendem Studium aufbrach, um im Geschäft seines Vaters in Kairo auszuhelfen. Aus seiner Korrespondenz, zeitgenössischen Essays und Tagebucheinträgen sowie seinen Ausführungen in Bewerbungsschreiben wird deutlich, dass er noch auf der Suche nach seiner Berufung im Leben war. Allmählich nahm er Abschied von seinem Traum, Konzertpianist zu werden. Er verabschiedete sich von seiner früheren Idee, "medizinischer Missionar“ im "Nahen Osten“ zu werden. Sicherlich wollte er kein Geschäftsmann werden, da ihm das Leben seines Vaters zuwider war.
Möglicherweise liebäugelte er damit, Romanautor zu werden. Dass er ungefähr zwischen 1987 und 1991 einen weiteren Versuch unternahm, einen Roman zu schreiben, nachdem er sich in der akademischen Welt bereits einen Namen gemacht hatte, macht deutlich, dass er weiter mit den verschiedenen Genres experimentierte. Seine Belletristik ist nicht nur deshalb wichtig, weil sie etwas über seinen Intellekt aussagt, über die literarische Qualität seiner Kritik und seiner preisgekrönten Memoiren (Out of Place, erschienen 2000) sowie die Innigkeit seiner Beziehung zum Schreiben verrät, sondern auch, weil er während seiner gesamten Laufbahn gegen das verbreitete Vorurteil anging, Dichter und Autoren seien erstrangig, während Kritiker nur deren Arbeit kommentieren würden. Er wollte die Welt verändern, sie nicht nur interpretieren. So wählte er den Weg des Kritikers statt den des Autors.
Das Interview führte Tugrul von Mende
© Qantara.de 2021
Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers
Timothy Brennan, Places of Mind: A Life of Edward Said, Bloomsbury 2021