Habib Tengour und die "Gedichte der Welt“
Die Schwerpunkte der Buchmesse in Algier, die vom 24. März bis 1. April unter dem Motto "Das Buch als Gedächtnisbrücke" ("Le livre passerelle de mémoire") stand, lagen bei den Themen Zeitgeschichte und Erinnerungskultur. 1250 Aussteller aus insgesamt 36 Ländern, unter ihnen 266 algerische, 324 arabische und 660 ausländische Verleger, präsentierten rund 300 000 Titel. Besonders bemerkenswert war der Auftritt des eigenwilligen algerischen Independent-Verlag APIC, im Jahr 2003 vom Ehepaar Salima Zennadi-Chikh und Karim Chikh, sie von Haus aus Archäologin, er Elektro-Ingenieur, gegründet, der seit 2018 mit einer Reihe hervortritt, die im gesamten Maghreb ihresgleichen sucht.
"Poèmes du Monde" - "Gedichte der Welt“, so heißt die bibliophile Sammlung, die binnen vier Jahren auf 23 Titel angewachsen ist und mit bislang 16 männlichen und 7 weiblichen Stimmen schon jetzt ein breitgefächertes Panorama der Lyrik präsentiert. Initiiert hat sie der algerische Lyriker und Ethnologe Habib Tengour, den Regina Keil-Sagawe am Rand einer Lesung in Montpellier traf.
Herr Tengour, wie sind Sie auf die Idee gekommen, eine Reihe internationaler Poesie ausgerechnet in Algerien zu publizieren, wo es die Verlage ohnehin nicht leicht haben?
Tengour: Da ich inzwischen ein "respektables" Alter erreicht habe, verspüre ich den Wunsch, etwas an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben. Warum sollte ich die jungen algerischen Lyriker, die oft Schwierigkeiten haben, aus Algerien herauszukommen, sich Bücher aus dem Ausland zu besorgen und sich über Trends jenseits des algerischen Tellerrands zu informieren, nicht von meinem Wissen profitieren lassen?
Und wie ist Ihre Wahl auf den Verlag APIC gefallen?
Tengour: Die Chemie zwischen Karim Chikh und Samia Zennadi, den Gründern der Editions APIC, und mir stimmte von Anfang an. Seit 2013 verlegen sie meine Bücher und ich konnte sie von der symbolischen Bedeutung einer Lyrik-Reihe überzeugen, wie sie es im ganzen Maghreb kein zweites Mal gibt. Auch wenn sich kein Geld damit verdienen lässt, verleihen die Namen der von ihm verlegten Lyriker dem Verlag mit der Zeit doch ein Renommee.
Eine einzigartige Lyrik-Edition im Maghreb
Es kommen gleich drei arabische Autoren in Ihrer 2018 begonnenen Reihe vor: Abdellah Zrika, Wegbereiter der modernen Lyrik Marokkos, Ghassan Zaqtan aus Palästina, Mitbegründer des Hauses der Dichtung in Ramallah, der als einer der innovativsten Lyriker seines Landes gilt, sowie der libanesische Lyriker, Übersetzer und Kulturanthropologe Issa Makhlouf, der in Paris lebt. Die Reihe ist auf sieben Titel pro Jahr angelegt, die internationalen Texte werden jeweils bilingual präsentiert. Ist das für den Maghreb eine Premiere?
Tengour: Die Edition ist ein absolutes Novum. Natürlich veröffentlicht man auch in Marokko oder Tunesien ausländische Lyrik, aber meines Wissens gibt es nirgendwo sonst das Prinzip der zweisprachigen Reihen-Edition mitsamt einer Einführung ins Werk und sieben Fragen zur Biographie des Autors, seinem Selbstverständnis als Lyriker und dem Stellenwert, den er dem literarischen Übersetzen beimisst. Sämtliche Autorinnen und Autoren meiner Reihe sind zugleich Lyriker und Lyrik-Übersetzer.
Darf man fragen, wie hoch die Auflagen sind?
Tengour: Nirgends auf der Welt zieht Lyrik die Massen in ihren Bann. Algerien bildet da keine Ausnahme. Deshalb interessieren sich große Verlagshäuser in der Regel kaum für Lyrik. Unsere Erstauflagen variieren zwischen 300 und 500 Exemplaren.
Also eher Sammlerstücke! Und wer sind Ihre Leser? Wie ist die Resonanz auf nationaler und internationaler Ebene?
Tengour: Statistiken haben wir keine. Aber die Medien berichten positiv, etwa Le Monde, Liberté und El Watan (Algerien), L'Orient le Jour (Libanon) und wir verkaufen nicht schlecht, meist auf Lesungen oder bei Buchmessen. Mit zwei meiner Autorinnen, Laure Cambau und Mia Lecomte, war ich am 18. März in der Maison de Poésie (Literaturhaus) in Montpellier zu Gast. Laure Cambou stellte ihren Band Grand motel du biotope (APIC 2020) vor, mit dem sie 2020 für den Prix Apollinaire, 2021 für den Prix Mallarmé nominiert war, und Mia Lecomte las aus ihrem Band Là où tu as ton corps / Là dove hai il corpo (APIC 2021), für den sie im Oktober 2021 die speziell an Frauen vergebene Auszeichnung Prix Vénus Khoury-Ghata erhalten hatte.
Wie finanziert sich die Reihe denn abseits von Lesungen oder Buchmessen? Gibt es Subventionen, vom algerischen Kulturministerium beispielsweise?
Tengour: Nein, gar nicht. Ein Teil der Auflage wird vom Institut Français in Algier finanziert. Dann hat uns in den beiden COVID-Jahren die von Sarah Riggs und Omar Berrada gegründete Kunst- und Kulturstiftung TAMAAS sehr geholfen. Auch die Autoren unterstützen uns. Ich bin ständig auf der Suche nach Sponsoren und schieße bisweilen etwas aus eigener Tasche zu.
Ein polyglottes Netz poetischer Stimmen
Vielleicht sähe es anders aus, wenn Sie auch für Übersetzungen ins Arabische sorgen würden?
Tengour: Klar wären Übersetzungen in alle drei Sprachen, Amazigh, Arabisch, Französisch ideal. Aber ich persönlich fühle mich nur für das Französische kompetent. Ich hoffe, dass sich unsere amazighophonen und arabophonen Dichterkollegen eines Tages der Übersetzung in die anderen Sprachen annehmen werden.
Dann hätten sie genug zu tun. Die Reihe "Poèmes du Monde" beläuft sich aktuell auf 23 Titel, ein weltumspannendes polyglottes Netz poetischer Stimmen. Im Jahr 2019 kamen sieben Stimmen dazu, mit Frédéric-Jacques Temple, Laure Cambau, Mia Lecomte und René Corona, Charles Bernstein, Debasish Lahiri und Yusef Komunyakaa reicht das Spektrum von Kalkutta bis Louisiana. Im Jahr 2020 kam mit Lasse Söderberg noch Schweden hinzu. Welches sind denn Ihre Auswahlkriterien?
Tengour: Nun, ich schreibe ja nicht erst seit gestern und hatte in meinem Leben genügend Gelegenheit, bei Poesie-Festivals auf Lyriker aus aller Welt zu treffen. Ich habe mir dann diejenigen herausgepickt, denen ich mich menschlich und literarisch besonders nahe fühle, deren Art des Umgangs mit Sprache mir originell und interessant genug erschien, um sie auch einem algerischen Publikum zugänglich zu machen. Es geht mir darum, herausragende und zugleich ganz unterschiedliche Positionen zeitgenössischer Poesie aus aller Welt vorzustellen.
Natürlich muss ich die Autoren und Übersetzer erst einmal dazu bewegen, mir ihre Originalmanuskripte unentgeltlich zu überlassen. Ich bitte auch immer wieder befreundete Dichter, mich in Kontakt mit Lyrikern aus mir eher fremden Regionen wie etwa Asien oder Lateinamerika zu bringen, um meinen Horizont zu erweitern.
Der Traum von einem Poesie-Festival in Algerien
Soeben wurden auf der Buchmesse in Algier sieben neue Titel in sieben Sprachen vorgestellt, die Reihe ist kosmopolitischer denn je. Neben dem Französischen, Englischen, dem Libysch-Arabischen mit Ashur Etwebi und dem Italienischen sind erstmals auch Titel aus dem Maltesischen, dem Türkischen und dem Deutschen dabei. "Krieg der Zimmer in meinem Haus - La Guerre des chambres dans ma maison" hat der Heidelberger Lyriker Hans Thill seine für Sie zusammengestellte Anthologie genannt. Wie war es für Sie, der Sie geläufig aus dem Arabischen und Englischen übersetzen, erstmals deutsche Lyrik zu übersetzen?
Tengour: Der Wunsch, moderne deutsche Lyrik zu übersetzen, kam mir 2017 während meiner DAAD-Künstlerresidenz in Berlin. Nach einem Jahr Berlin mit nichts als dem Klang der deutschen Sprache im Ohr drängte es mich nachgerade, einen deutschen Dichter zu übersetzen. Dass die Wahl auf Hans Thill fiel, war kein Zufall. Ich kenne ihn seit Jahren und mag seinen Stil sehr. Wir haben viel über seinen Text und meine Übersetzung diskutiert, das hat am Ende sogar die Sicht auf mein eigenes Schreiben vertieft.
Herr Tengour, Sie werden am 29. März 75 Jahre alt. Wiewohl Ihnen noch immer das Image des jugendlichen Rebellen und "berühmten Unbekannten" anhaftet, sind Sie doch mittlerweile einer der Doyens der Literaturszene des Maghreb und eine Autorität innerhalb der Welt der frankophonen Lyrik. Unlängst sind Sie sogar ins Redaktionskomitee der von Michel Deguy 1977 gegründeten Pariser Lyrikzeitschrift Po&sie nachgerückt. Wie fühlen Sie sich damit?
Tengour: Wenn ich könnte, würde ich mich in meine wilden Dreißiger zurück katapultieren, in die 1970er Jahre, als ich Tapapakitaques schrieb, meine 1968er-Revolutionspersiflage ... Es stimmt mich traurig, dass so viele gute Freunde uns schon verlassen haben. Mir bleiben noch einige literarische Projekte, die ich unbedingt abschließen möchte, bevor ich gehe. Mein großes Algerien-Epos wird wohl nicht mehr so groß ausfallen wie geplant, aber ich komme voran.
Und Ihr größter Traum?
Tengour: Ich träume davon, eines Tages in Algerien ein internationales Poesie-Festival organisieren zu können. Vielleicht hilft die Reihe "Poèmes du Monde", diesen Traum eines Tages zu verwirklichen.
Das Gespräch führte Regina Keil-Sagawe.
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Die einzelnen Bände der Reihe "Poèmes du Monde" des Verlags APIC kosten zwischen 12 und 15 Euro und sind in Europa über die Editions Qatifa zu beziehen: www.editions-qatifa.com.
Regina Keil-Sagawe hat zuletzt die Werke "Traverser/ Übers Meer" (hans schiler 2017), "Der Alte vom Berge" (sujet 2019) und "Beau Fraisier. Eine Kindheit in Algier" (bübül 2019/20) von Habib Tengour ins Deutsche übersetzt. Sie gibt zusammen mit Hervé Sanson eine Festschrift zum 75. Geburtstag des Autors heraus, die im Mai beim Verlag APIC in Algier erscheint.