Ein Netz aus lebendem Gewebe
Fußnoten können die lebendigsten, vielschichtigsten und interessantesten Teile eines Buches sein. Während der Text selbst gewissermaßen die Höhen der unangefochtenen Autorität beansprucht, sind die Fußnoten darunter ein Hort der Vielfalt und des Zweifels. In Fady Joudahs jüngster Gedichtsammlung "Footnotes in the Order of Disappearance" aus dem Jahr 2018 kommen dementsprechend mehrere Stimmen zu Wort, oft voneinander abweichend, bisweilen widersprüchlich.
In "Form und Diktion", erklärt der preisgekrönte palästinensisch-amerikanische Dichter uns, sei die Sammlung sein Werk. Doch an ihrem Mäandern zwischen der englischen und arabischen Sprache sind noch weitere Dichter beteiligt. Ein ganzer Abschnitt mit dem Titel "Sagittal Views" ist in Zusammenarbeit mit dem syrisch-kurdischen Dichter Golan Haji entstanden.
Und "Sagittal Views" ist nicht das einzige Gemeinschaftswerk in Joudahs Anthologie. "Epithalamion" hat Joudah zusammen mit der Dichterin Deema Shehabi verfasst; "Kohl" macht Anleihen an die klassische arabische Dichtkunst und "I Dreamed You" ist die Adaption einer Übersetzung, die Joudah von einem Gedicht des Palästinensers Hussein Barghouthi (1954-2002) angefertigt hat.
Sicher, alle Dichtung baut auf den Relikten früherer poetischer Werke auf, indem sie Fragmente geliebter (oder verhasster) Gedichtzeilen verwertet. Joudahs Fußnoten-Gedichte jedoch holen andere Dichter mitten in den Entstehungsprozess hinein.
Dabei bilden Joudah und Haji als Gesprächspartner eine besonders inspirierende Paarung. Beide sind anerkannte Dichter und Übersetzer, einer übersetzt aus dem Arabischen ins Englische, der andere aus dem Englischen ins Arabische. Beide haben Medizin studiert. Beide sind furchtlose Essayisten.
Die Gedichte in dem von ihnen gemeinsam verfassten Abschnitt "Sagittal Views" wurden, wie Joudah gegen Ende des Buches verrät, von ihm allein auf Englisch geschrieben. Aber sie "basieren auf unseren Begegnungen, Telefongesprächen und arabischen E-Mails." So kommt es, dass "der 'Originalanteil' des jeweiligen Autors von Gedicht zu Gedicht variiert."
Der Begriff "Sagittal View" entstammt der medizinischen Sphäre, in der beide Dichter zu Hause sind; gemeint sind von oben nach unten verlaufende Schnitte, durch die man "scheibchenweise" sehr detaillierte Einblicke in den menschlichen Körpers erhält. Die Gedichte zeigen also einen Querschnitt der Welt, der uns einen Blick auf die tausend Kleinigkeiten erlaubt, die in ihrem Inneren verborgen sind.
Verbindungslinien unter der Haut
Das erste Gedicht in diesem Kapitel trägt den rätselhaften und widersprüchlichen Titel "After No Language" (Nach keiner Sprache). Es ist beseelt von dem märchenhaften Surrealismus, der Hajis Schreiben kennzeichnet, und den präzise herausgemeißelten Momenten des Schweigens, die Joudahs Poesie durchziehen und umgeben.
Das Gedicht beginnt mit den Worten: "A silent feeling of an invisible punishment or one seen through cataracts, a sentence that isn't meted out and doesn't end [.]" (Das stumme Gefühl einer unsichtbaren Strafe oder einer durch Katarakte gesehenen, ein Satz, der nicht zugemessen wird und nicht endet.)
Von der ersten Zeile an wird dem Leser das alptraumhafte Gefühl vermittelt, dass eine unsichtbare Strafe droht, die aus einer nicht vorhersehbaren Richtung herannaht. Der Satz ist ungesagt und auch endlos, er existiert unter und jenseits der Sprache. Später dann tauchen die für Haji typischen surrealen Bilder auf, etwa wenn der Erzähler berichtet:
"Vor einer Weile sah ich eine Waschmittel-Werbung in Schwarzweiß: Der Kunde war in einer Seifenblase gefangen, die nicht durchbrochen werden konnte, einer zweiten, transparenten Haut, aus der er nicht heraus kann, bevor der Werbespot zu Ende ist; ich glaube, ihr Ausgangspunkt war die Geschichte eines Chinesen, der als Kind in eine Eisenkugel gesteckt wurde: als er wuchs, wuchs auch die Strafe, bis es nicht länger möglich war, sein Blut vom Rost der Kugel zu unterscheiden, und ich kann mich nicht mehr erinnern, wofür er bestraft wurde."
Die beängstigende Strafe verweist sowohl auf Fremdes (Chinese) als auch auf Vertrautes (die Waschmittel-Werbung). Die Schwarzweiß-Werbung ist wortreich und stumm zugleich, der Mann in der Werbung ist in einer Blase gefangen, die er nicht durchbrechen kann. Das Gedicht endet mit den Worten "no silence offers answers" (kein Schweigen bietet Antworten): ein unfertiger Satz, der uns erlaubt, der Blase in die Leere der nächsten Seite zu entkommen.
Dialog zwischen zwei Erzählern über die Gewalt
Das gemeinsam verfasste Gedicht "After Wine" (Nach dem Wein) wirkt wie ein Dialog zwischen zwei Erzählern über die Gewalt, die sie beide kennen - hier Palästina, da Syrien. Das Gedicht sagt uns nicht, wo genau die Gewalt stattfindet - erlebt wird sie durch die Tentakel des Internet: "Die Hölle der Bilder im Web. Gesichter von Toten auf Facebook warten auf deinen Heimweg. Eine Frau, die, als du ein Junge warst, deine Lust entfacht hat, stirbt früh am Morgen, am Telefon mit ihrer Schwester. Zuerst ein Knall, dann Stille."
Bei Joudah finden sich keine poetisch gestalteten Zeugnisse, die von Ereignissen oder der Reaktion des Dichters auf sie berichten. Sie spüren den Verbindungslinien unter der Oberfläche der Dinge nach, wo Geschehnisse auf der ganzen Welt durch ein komplexes Netz aus lebendem Gewebe miteinander verbunden sind. Ebenfalls aus "After Wine" stammen die Worte: "Du konntest nicht wissen, dass sie soeben gestorben war, und während du glaubtest, Klees Gemälde in der Galerie zerrten an deinen Nachmittagsnerven, war sie es, die deinen Namen zum letzten Mal rief."
Der Tod der Frau entfaltet seine Wirkung über räumliche Grenzen hinweg und zerrt an den Nerven eines Mannes in einem weit entfernten Museum. Dasselbe Gedicht nimmt uns mit in die nordsyrische Stadt Amuda, zu der verbotenen Liebe eines Onkels, die zwei Generationen später in Damaskus ein Echo findet. Es gibt, sagt uns das Gedicht, mehr Verbindungslinien als die unmittelbar sichtbaren.
Zeuge des Verschwindens
Auch wenn diese Gedichte keine Zeugnisse sind, kann man in ihnen durchaus den Ausdruck individueller Verzweiflung erkennen. Zwei tragen den verspielt-bedrückenden Titel "Ich, der einzige Zeuge meiner Verzweiflung, erkläre". Am Ende des ersten Gedichts folgert der Erzähler, das Leben halte zwei Möglichkeiten bereit: "Verrückt werden unter den Verrückten/ oder verrückt werden allein."
In beiden Versionen des Gedichts antwortet der Erzähler einem unsichtbaren Fragesteller, der Meditation als Heilmittel nahelegt, und in keinem von beiden zeigt er sich für den Vorschlag empfänglich. "Würde nur/ die Wirklichkeit meinen Kopf nicht belagern/ würde ich das Leben feiern". Tatsächlich ist eine Zen-ähnliche Gelassenheit unmöglich, wenn "grausame Menschen sich Einlass/ durch meinen Augenwinkel verschaffen“ und Angst "ein kurzer Korridor zum Ende der Dinge [ist]/ das Ende der Dinge aber endlos."
Im letzten Abschnitt der Anthologie ist Joudah alleiniger Autor, was auf einmal wie ein einsames Geschäft wirkt. Aber auch hier gibt es Doppelungen, eingefasst von zwei korrespondierenden Gedichten mit dem Titel "Footnotes in the Order of Disappearance".
Am Ende des Gedichts bewegt sich der Erzähler in Etappen in die Vergangenheit zurück: Erst erinnert er sich an einen Gesprächspartner, den er im Alter von zehn Jahren hatte, dann an seine Zeit als Kleinkind und schließlich an Babyzähne, die in ein Handgelenk beißen, ein kleiner Kreis von Abdrücken. Die Spuren bleiben nur einen kurzen Augenblick sichtbar, bevor sie verschwinden, wie die Fußnoten im Titel der Anthologie.
Marcia Lynx Qualey
© Qantara.de 2018
Aus dem Englischen von Maja Ueberle-Pfaff