"Es gibt nicht die eine, homogene türkische Kultur“
Herr Kaya, warum wollten Sie einen Film über die Geschichte der türkischen Musik in Deutschland machen?
Cem Kaya: Meine ersten beiden Filme handelten von türkischer Popkultur. Der erste hieß "Arabesk - Vom Gossensound zum Massenpop“ und der zweite "Remake, Remix, Rip-Off – Über Kopierkultur und das türkische Pop-Kino“. In "Arabesk“ habe ich versucht, über die Geschichte der Binnenmigration der Türkei, das musikalische Genre und gesellschaftliche Phänomen des Arabesk zu analysieren.
Diese in den Studios Istanbuls entstandene, keineswegs traditionelle Musik wurde zum Ausdruck der armen Leute, die aus den verschiedenen Regionen des Landes kommend, in den sogenannten Gecekondus hausten, den meist illegal selbst errichteten Vororten der Großstädte. Die Musik und die Texte linderten ihren Kummer, die Sehnsucht nach Heimat und Familie und trösteten sie über ihre ärmlichen Verhältnisse hinweg. Zu Beginn rümpften die Eliten des Landes noch die Nase über diese für türkische Ohren arabisch klingende Musik, doch Arabesk wuchs und wurde zum Mainstream-Pop. Sie war ein zu jeder Zeit umstrittenes Thema und deswegen wollte ich einen Film darüber machen.
Bevor ich meinen zweiten Film gedreht habe, schrieb ich eine Masterarbeit über das türkische Kino und ihre Praxis, Hollywood Filme zu adaptieren. Während dieses Prozesses habe ich gemerkt, dass türkische Musik in Deutschland, durch den immensen Video- und Musikkassettenmarkt, ein eigenes Phänomen ist. Also wollte ich auch das zunächst als akademische Recherche angehen.
Und wo haben Sie angefangen? Wieder beim Schreiben?
Kaya: Ich habe mich sieben Monate lang hingesetzt, recherchiert, gelesen und geschrieben. Martin Greve war eine Quelle, er hatte das Buch "Die Musik der imaginären Türkei“ geschrieben und als einer der ersten einen Rundumschlag über die kurdisch-türkische Musikszene gemacht. "35 Jahre HipHop in Deutschland" von Sascha Verlan und Hannes Loh war eine weitere Quelle, als es um die Musik der zweiten und dritten Generation ging.
Des weiteren habe ich "Songs of Gastarbeiter“ viel zu verdanken. In dieser Kompliation von Bülent Kullukcu und Imran Ayata habe ich zum ersten Mal Musik gehört, die sogenannte Gastarbeiter auf Deutsch gesungen haben. Ich bin zwar mit Musik aus der Türkei groß geworden, aber ich kannte beispielsweise die Sängerin Yüksel Özkasap gar nicht, die als "Nachtigall von Köln“ Millionen von Alben in Deutschland verkauft hat. Ich habe ganz unerwartet türkische Popkultur in Deutschland gefunden.
Diese persönliche Note merkt man Ihrem Film auch an. Konnten Sie sich durch den Film nochmal in Ihre Kindheit und Jugend hineinversetzen?
Kaya: Als Kinder und Jugendliche sind wir oft in Musikrestaurants, den Gazinos gewesen, türkische Hochzeiten waren auch immer ein Highlight oder auch die Autofahrten mit unseren Eltern in die Türkei, da wurde ja auch pausenlos Musik gehört. Ich mag die Musik sehr und bin der Kultur treu geblieben. Ich höre auch nach wie vor Metropol FM, einen türkischsprachigen Berliner Radiosender. Vielleicht nicht so hip und jugendlich wie Cosmo Radio des WDR, dafür sehr nah an der Community.
Bei mir hat die Beschäftigung mit türkischer Popkultur bereits zu Beginn der 2000er Jahre begonnen, also noch vor meinem Film "Remake, Remix, Rip-Off“, als ich mich an Musik und Filme aus meiner Kindheit erinnert habe. Dieses Rückbesinnen passiert ja eher als junger Erwachsener. Durch die Recherchen für meine Filme habe ich dann überhaupt Zusammenhänge verstanden zwischen Zeitgeschehen, Politik und Pop. Das hat mir ganz neue Möglichkeiten der Erzählung eröffnet.
Ihr Film "Liebe, D-Mark und Tod“ erscheint um den 60. Jahrestag des Anwerbeabkommens zwischen Deutschland und der Türkei herum. Wie blicken denn die Musiker auf diese Zeit zurück? Sie singen auch über ihre Rassismuserfahrungen zum Beispiel. Kann die heutige Generation etwas daraus lernen?
Kaya: Im kollektiven Gedächtnis der Migranten hat sich seit dem Mauerfall und später nach der Einführung des Euro vieles geändert. Man erinnert sich gerne an die gute alte D-Mark, an eine Zeit des vermeintlichen Überflusses, ökonomisch wie kulturell. Deswegen heißt der Film auch "Aşk, Mark ve Ölüm“, also "Liebe, D-Mark und Tod". Die Deutsche Mark wird in der Rückbesinnung mystisch als harte Währung verklärt, die Wohlstand brachte.
Die Einführung des Euro kommt einer Entwertung gleich und bedeutete auch das Verschwinden eines üppigen kulturellen Lebens wie der Gazino-Kultur. Aber zu Ihrer Frage: Ich habe niemanden erlebt, der ausschließlich über Diskriminierung sprechen wollte. Das hat was mit Verarbeitung beziehungsweise auch Verdrängung zu tun. Wir erzählen ja vor allem die musikalische Seite.
[embed:render:embedded:node:44715]
Aber es kommt ja im Film vor, dass die Generation von damals ganz bestimmte politische Musik gemacht beziehungsweise auf Missstände reagiert hat.
Kaya: Stimmt. Ich erzähle im Film von der Aşık Kultur, die nicht nur in der Türkei sondern im gesamten Vorderen Orient zum Beispiel auch im Iran oder in Aserbaidschan gelebt wird. Es ist die Kultur der sogenannten Aşık, Ozan, Dengbêj oder Hafız, den wandernden Geschichtenerzählern und Volksliedsängern, die ihr Wissen, ihre Tradition und Geschichten mündlich weitergeben. Hafız bedeutet übersetzt das Gedächtnis, sie vermitteln also orale Tradition und Geschichte.
Der große Kölner Aşık Metin Türköz aus unserem Film improvisiert Melodien und dichtet spontane Verse über die Verhältnisse hier in Deutschland. So ein bisschen wie beim Freestyle Hip-Hop. Er prangert also die Lebensumstände an und wird dadurch zum Sprachrohr der Arbeiter um ihn herum. Aus dieser Tradition der Volksdichtung kommt auch das Duo "Derdiyoklar“, eine alevitische Hochzeitsband. Es ist etwas naturverbundener und performt traditionelle Sagen in Gedichtform, die sogenannten Deyiş.
Die traditionelle Langhalslaute Bağlama, auch Saz genannt, ist in der alevitischen Kultur geradezu heilig, sie wird auch der "Koran mit Saiten“ genannt, weil Musik in der alevitischen Religion eine große Rolle spielt. Derdiyoklar sind kritisch und politisch. Eines ihrer Lieder heißt "Yaz Gazeteci Yaz“, also "Schreib‘, Journalist, Schreib‘“. Schreibe nicht nur über die reichen Leute, sondern auch über die Armen im Dorf. Ein weiteres Lied, diesmal über die Zustände in Deutschland heißt "Liebe Gabi“. Darin geht es um Ausländerfeindlichkeit und Rassismus hierzulande.
Wo ist diese Tradition denn geblieben? Gibt es denn noch Versionen dieser Musiker in der heutigen deutsch-türkischen Community?
Kaya: Aber natürlich! Sie sind da. Die alevitische Gemeinde ist sehr gut organisiert. Da treten ständig Musiker aus der Türkei in Deutschland auf aber auch so Internet-Phänomene wie Malek Samo oder HipHop-Bands wie Microphone Mafia kritisieren weiterhin die Umstände in Deutschland. "Depressionen im Ghetto“ des Rappers Haftbefehl zum Beispiel ist ein hochpolitischer Song. Die migrantische Musik hat sich ja ohnehin auf Hip-Hop und Pop verlagert. Ich denke da an Elif, Summer Cem, Pashanim.
Die musikalische Kultur in der Türkei ist sehr vielfältig. Mir war wichtig zu zeigen, dass es nicht die eine, homogene türkische Kultur gibt. Es gibt kurdische Musik, die auch innerkurdisch Unterschiede aufweist. Dersim-Lieder unterscheiden sich von Liedern aus Erzincan. Es gibt die Musik der Tscherkessen, der Lazen, der Yeziden. Hochzeitsfeiern von Türken mit Wurzeln aus Aserbaidschan zum Beispiel sind noch viel wilder als die üblichen Hochzeiten.
Dem Brautpaar Geld zu schenken spielt traditionell eine immens wichtige Rolle. Musiker erzählen uns, dass mit Trinkgeldern um sich geschmissen wird. Es gibt viele unterschiedliche Kulturen, die sich in Deutschland treffen.
Ist es denn fair zu sagen, dass irgendwo etwas verlorengegangen ist in der deutsch-türkischen Musikkultur? Kann man denn die Musiker in Ihrem Film, die Musik der sog. Gastarbeiter, mit den von Ihnen genannten zeitgenössischen Künstlern wie Elif oder Summer Cem oder auch Haftbefehl wirklich vergleichen? Das ist doch was ganz anderes.
Kaya: Vielleicht muss man sie ja gar nicht miteinander vergleichen. Aber man kann sie in Beziehung setzen. Und ja, es geht ja immer was verloren zwischen Generationen. Aber es entsteht auch was Neues. Den Jazz der 1960er Jahre kann man ja auch nicht konservieren. Heute gibt es anderen Jazz, er ist aber nicht aus dem Nichts entstanden. In meinem Film portraitiere ich unterschiedliche Künstler aus unterschiedlichen Generationen und frage mich, was macht denn zum Beispiel Muhabbet heute und wie hat das Metin Türköz damals gemacht? Ich ziehe also Parallelen und suche nach einem roten Faden.
Das Interview führte Schayan Riaz.
© Qantara.de 2022