Schweres koloniales Erbe
Der Streit über die indische Zivilrechtsfrage beschäftigt bereits seit Jahrzehnten Hindus und Muslime gleichermaßen. Nadja-Christina Schneider informiert über die Entwicklung des islamischen Personenstandsrechts und die säkularen Reformbemühungen auf dem indischen Subkontinent.
Die Frage, ob religiöse Familienrechte als Hindernis für die Demokratie und nationale Einheit oder als Garant für die Pluralität der Gesellschaft zu sehen sind, polarisiert die indische Öffentlichkeit seit dem berühmten Shah-Bano-Fall immer wieder. Seinen Ausgangspunkt nahm dieser Fall Ende der 70er Jahre, als ein Zivilgericht den Rechtsanwalt M.A. Khan zu einer monatlichen Unterhaltszahlung an seine geschiedene Frau Shah Bano verurteilte. Khan wollte dies nicht akzeptieren und reichte eine Berufungsklage beim Obersten Gericht in Delhi ein. Eine Muslimin hätte nach islamischem Recht lediglich während der dreimonatigen Wartezeit nach der Scheidung ("iddat") Anspruch auf Unterhaltszahlungen, war seine Begründung. Als die Klage 1985 abgewiesen wurde, löste dies eine erbitterte Kontroverse zwischen Befürwortern des Urteils und muslimischen Wortführern aus, die ihre kulturellen Rechte als Minderheit verletzt sahen. Verstärkt wurde ihre Empörung durch die deutlich herabsetzenden Äußerungen über den Islam in der Urteilsbegründung des vorsitzenden Richters Chandrachud. Rechtliches Durcheinander Um die drohende Entfremdung seiner muslimischen Wählerschaft abzuwenden, verabschiedete die Kongress-Regierung unter Rajiv Gandhi 1986 ein übereiltes Gesetz zum "Schutz der Rechte muslimischer Frauen". In Unterhaltsfragen wurde darin die Priorität des islamischen Personenstandsrechts vor dem Strafverfahrensrecht festgelegt, wodurch Musliminnen faktisch von dessen Anwendbarkeit ausgeklammert wurden. Die politischen Gegner im Lager der Hindu-Nationalisten erkannten in dem umstrittenen Gesetz sofort ein willkommenes Wahlkampfthema. Die Unterteilung in ein Straf- und Zivilrecht erfolgte in Indien unter britischer Herrschaft. Das Straf- und Strafverfahrensrecht wurden 1862 eingeführt und beide sollten unabhängig von Religion oder Kaste auf alle Teile der indischen Gesellschaft angewendet werden.
Auf der Grundlage der Religionszugehörigkeit wurden dagegen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Personenstandsrechte erlassen, die in familienrechtlichen Fragen Anwendung finden sollten. Das kolonialstaatliche Interesse bestand darin, die Grenzen religiös definierter Gemeinschaften festzulegen, um sie klarer voneinander abgrenzen zu können. Seit Ende des 19. Jahrhunderts hatten aber auch muslimische Reformbewegungen das Inkrafttreten des islamischen Personenstandsrechts gefordert, um innerhalb der Logik der Scharia eine rechtliche Besserstellung für Musliminnen zu erwirken. Sie argumentierten, dass Frauen im Rahmen der Scharia über Rechte verfügten, wie sie keines der damaligen Gewohnheitsrechte gewährte, etwa das Recht auf Scheidung, Erbe und Wiederheirat. Hinzu kam, dass muslimische Gelehrte nach dem Wegfall des Kalifats und Ende des Osmanischen Reichs im islamischen Personenstandsrecht einen letzten gemeinsamen Nenner sahen, auf dem sich eine kollektive Identität der fragmentierten muslimischen Gemeinschaft Indiens herausbilden konnte. Religiöse Familienrechte nach der Unabhängigkeit Ganz anders bewerteten die Anhänger einer starken Zentralmacht und kulturellen Homogenität das Fortbestehen religiöser Familienrechte nach der Unabhängigkeit 1947. Sie sahen darin die Basis für politische Mobilisierungen nach religiöser Zugehörigkeit. Eine echte Nationenbildung und Modernisierung Indiens würde so nachhaltig verhindert. Ihrer Überzeugung nach konnte nur ein einheitliches, säkulares Zivilrecht partikulare Identitäten einebnen und den Prozess der Sozialreform beschleunigen. Die Verbitterung konservativer Hindus darüber, dass sie die Einführung eines reformierten Hindu-Familienrechts (1956-61) akzeptieren mussten, während das der Muslime weiterhin "unangetastet" blieb, tat ihr Übriges.
Dossier: Frauen in der islamischen Welt
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Das islamische Personenstandsrecht wurde für sie zum Symbol der "Rückständigkeit und des Reformunwillens" sowie einer "Privilegierung" der Muslime durch die Kongress-Regierung. Entsprechend basierte die Strategie der hindu-nationalistischen "Bharatiya Janata Party" (BJP) auf der "Entlarvung" des nachkolonialen Modernisierungsprojekts als "pseudo-säkular". Demgegenüber inszenierte sich die BJP als die konsequentere Partei und verschaffte sich durch die Forderung nach einem einheitlichen Zivilrecht eine zusätzliche Legitimationsbasis. Die Zivilrechtsdebatte als Medienereignis Als Medienereignis besaß der Streit über die indische Zivilrechtsfrage in den vergangenen zwei Jahrzehnten mehrfach Konjunktur. Stand im Shah Bano-Fall die Unterhaltsfrage im Vordergrund, so entfachte etwa der Sarla Mudgal-Fall (1995) eine neue Diskussion über die "Polygamie", nachdem ein Hindu in der irrigen Annahme zum Islam konvertiert war, als Muslim eine weitere Ehe schließen zu können. Auch wenn Teile der Hindi-Presse eine zentrale Rolle bei der Propagierung des Hindu-Nationalismus spielten, erkannten die Medienstrategen der BJP früh die Bedeutung der englischsprachigen Presse für ihren politischen Erfolg. Vor allem im "Indian Express", der "Times of India" und im "Statesman" fand die Partei ein offenes Forum, um ihre Angriffe gegen die Kongress-Partei und die Muslime zu lancieren und sich so auch in dieser machtvollen Öffentlichkeit zu etablieren. Bis weit in die 90er Jahre hinein gelang es der BJP, den Rahmen zu bestimmen, in dem die Zivilrechtsproblematik medial wahrgenommen und diskutiert wurde. Gezielt werteten sie das einheitliche Zivilrecht zum Schlüsselsymbol der "nationalen Integration" um. Und wer sich dagegen aussprach, wurde als "anti-national" diffamiert. Reformorientierter Dialog im Abseits Diese Umdeutung der Zivilrechtsfrage hatte zur Folge, dass die rechtliche Gleichstellung von Mann und Frau in den Hintergrund gedrängt wurde. Auch wenn die "Unterdrückung muslimischer Frauen" als Standardargument angeführt wurde, um die "Rückständigkeit" der islamischen Zivilisation zu behaupten, geriet das Interesse an einem reformorientierten Dialog zusehends ins Abseits. Auch die Bedrohungsszenarien der "Polygamie" und "Übervölkerung" zeigen, dass es vorrangig um die vermeintliche Privilegierung muslimischer Männer gegenüber den Männern der Mehrheitsgesellschaft ging. Entsprechend wenig Aufmerksamkeit erfuhren die seither eingeführten Veränderungen des islamische Personenstandsrechts. So haben indische Gerichte Wege aufgetan, durch die geschiedenen Musliminnen trotz "iddat"-Regelung eine Kompensation zugesprochen werden kann, etwa indem die Summe, die der Noch-Ehemann während dieser drei Monate zahlen muss, entsprechend hoch festgesetzt wird. Sehr wichtig war auch ein Urteil des Obersten Gerichts aus dem Jahr 2001, das Unterhaltsfortzahlungen über diesen Zeitraum hinaus ermöglicht. Ein Jahr später legte das Oberste Zivil- und Strafgericht in Bombay außerdem fest, dass jede Scheidung gerichtlich nachgewiesen werden muss. Zu den Bedingungen, die erfüllt werden müssen, gehört die Angabe konkreter Gründe für die Scheidung, die Erstattung des Brautgeldes und sämtlicher Besitzgegenstände der Frau sowie Unterhaltszahlungen während des "iddat". Muslimische Frauenorganisationen befürchten, dass der Zeitpunkt für solche Maßnahmen angesichts der Verunsicherung der Muslime durch die Pogrome in Gujarat im Frühjahr 2002 schlecht gewählt sei. Der Proteststurm blieb jedoch aus, vielmehr fand das Urteil zum Nachweis von Scheidungen die ausdrückliche Zustimmung des Generalsekretärs des "All India Muslim Personal Law Board", Maulana Syed Nizamuddin. Voraussetzung für eine glaubwürdige Diskussion über die Reform des islamischen Personenstandsrechts bleiben jedoch Institutionen, in denen die Interessen der indischen Muslime nachweislich vertreten werden. Ohne sie kann sich keine Politik auf ihre Zustimmung berufen oder als demokratisch legitimiert betrachten. Nadja-Christina Schneider © Qantara.de 2007 Dr. Nadja-Christina Schneider ist als Lehrbeauftragte am Institut für Asien- und Afrikawissenschaften der Humboldt-Universität in Berlin tätig. Ferner arbeitet sie ehrenamtlich als Redakteurin für das Online-Portal Südasien-Informationsnetz e.V. (www.suedasien.net).
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