Forderung nach Chancengleichheit
Die Klischeevorstellung ist, dass Indiens Muslime eine sozioökonomisch benachteiligte Gruppe sind, deren Stimmen die Kongresspartei und in gewissem Maß auch politische Kräfte monopolisieren, indem sie ihre spezifischen Interessen vertreten. Das ist aber Unsinn. Wären die Muslime tatsächlich seit Indiens Unabhängigkeit 1947 eine staatlich gehätschelte Gruppe, wären sie doch wohl heute nicht mehr sozioökonomisch benachteiligt.
Um die Gegenwart zu verstehen, hilft ein Blick in die Vergangenheit. In der Kolonialära stellten britische Geschichtsbücher Muslime als ausländische Aggressoren dar. Das Empire erschien im Vergleich zur Mogulherrschaft vorteilhaft. Das unabhängige Indien übernahm diesen Diskurs. Das Bild von Muslimen als Ausländern wurde noch verstärkt, weil Pakistan ein separater Staat wurde. Viele Muslime blieben zwar freiwillig in Indien, ihnen wurde aber misstraut.
Heute hat Indien nach Indonesien und Pakistan die drittgrößte muslimische Bevölkerung der Welt. 172 Millionen Inder gehören dem Islam an. Ihre 14 Prozent der Bevölkerung bilden nach den Hindus die zweitgrößte Religionsgemeinschaft. Meist leben sie in Städten – in besonderen Vierteln, die abfällig "Mini-Pakistan" genannt werden. Muslime sind in Indien oft Vorurteilen, Misstrauen, Diskriminierung und Gewalt ausgesetzt. Von Chancengleichheit kann keine Rede sein, wie 2006 der sogenannte Sachar-Bericht bewies.
Identitätspolitik
Die Wahrheit ist, dass es in Indien nie eine umfassende Politik gab, um Muslime besser zu stellen. Der Staat hat nur Maßnahmen ergriffen, die den islamischen "Glauben" schützen sollten. Verschiedene Regierungen hörten auf selbsternannte, patriarchalische Führungsfiguren, die islamische Religionsgrundsätze betonten.
Das Staatshandeln blieb weitgehend symbolisch und beschränkte sich darauf, ein Leben entsprechend den heiligen Schriften zu ermöglichen. Leider ermöglicht es diese Politik rechtslastigen Hindus, Muslime wegen ihrer unfairen Behandlung von Frauen zu kritisieren – gerade so, als wäre die indische Gesellschaft nicht generell patriarchalisch. Alle Religionsgemeinschaften, auch die Hindus, benachteiligen Frauen.
Zu den unzähligen Missverständnissen zählt, dass Muslime als homogen strenggläubige Gruppe gelten. Mushirul Hasan von der nationalen muslimischen Universität Jamia Millia Islamia in Neu Delhi weist dagegen in einem Buch von 2008 die Idee des monolithischen Blocks zurück, der in erster Linie von Glaubensdoktrinen gelenkt wird. Ihm zufolge werden Unterschiede innerhalb der Religionsgemeinschaft ständig übersehen.
Obwohl Kongress-Regierungen nichts taten, um die sozioökonomische Lage der Muslime zu verbessern, wird der Partei vorgeworfen, Muslime zu "verhätscheln". Die heute regierende Bharatiya Janata Party (BJP) wiederholt das ständig. Sie gehört zum hindu-chauvinistischen Sangh Parivar, einem Zusammenschluss von Organisationen, die den Hinduismus als dominierende Kraft sehen.
Anti-muslimische Pogrome
Die BJP und ihre Verbündeten haben eine gewalttätige Geschichte. Nach Massenagitationen zerstörten zum Beispiel ihre Anhänger 1992 die Babri-Moschee in Ayodhya. Der Vorfall löste Unruhen in Indien, Pakistan und Bangladesch aus. Tausende wurden getötet. 2002 erschütterten anti-islamische Unruhen den Bundesstaat Gujarat. 2013 gab es ähnliche Krawalle in Uttar Pradesh.
Solche Gewaltausbrüche werden gemeinhin "Hindu-Moslem-Krawalle" genannt. Das ist missverständlich, denn es ist belegt, dass die Angriffe auf Muslime, ihr Eigentum und ihren Glauben meist geplant sind. Der Begriff "Hindu-Muslim Riot" unterstellt dagegen gleiche Verantwortung. Besonders infam ist, dass so der Eindruck gepflegt wird, Muslime seien in religiös-motivierte Gewalt verstrickt sind. Das macht es leicht, sie als potenzielle Terroristen und Terrorsympathisanten darzustellen.
BJP-Anführer haben zugegeben, dass Pogrome ihnen helfen, Wähler zu binden, und Muslime von politischer Partizipation abzuschrecken. Premierminister Narendra Modi spricht heute gern von Entwicklung, aber unterschwellig ist immer klar, dass er die Macht der Hindus festigt.
Modi war 2002 Regierungschef in Gujarat und hat die Pogromverantwortlichen nie zur Rechenschaft gezogen. Seit er Premierminister ist, erschüttert eine Reihe von sporadischen, aber organisierten Angriffen auf Muslime das Land. Die Täter fühlen sich offenbar sicher, weil er regiert.
Die Vorstellung, dass die Kongresspartei die Stimmen der Muslime "monopolisiert" hätte, ist übrigens falsch. Raphael Susewind und Raheel Dhattiwala haben das Wählerverhalten in Gujarat und Uttar Pradesh untersucht. Heraus kam, dass – kaum überraschend – Muslime tendenziell den Kandidaten jedweder Partei wählen, der die beste Chance hat, den Kandidaten der BJP oder ihrer Verbündeten zu schlagen. Wenn sich Muslime allerdings besonders bedroht fühlen, wählen sie manchmal auch antimuslimische Politiker, um nicht anzuecken.
Muslime fordern gleiche Rechte
Indischen Muslimen ist sehr bewusst, dass sie als Minderheit auf Frieden und Harmonie angewiesen sind. Sie wissen, dass Gewalt ihnen keinen Ausweg aus der Misere ebnet. Positiv ist jedoch, dass sie beginnen, gleiche Rechte zu fordern. Immer mehr Muslime ziehen vor Gericht, um Verfassungsprinzipien gegen ungeschriebene Vorstellungen von richtig und falsch durchzusetzen. Bewegungen der Frauen und der ausgestoßenen Dalits haben bewiesen, dass das Wirkung hat.
Es ist gut, dass Gerichte angefangen haben, Muslime freizusprechen, die des Terrorismus beschuldigt wurden und jahrelang ohne Beweise eingesperrt wurden. Opfer der Unruhen von 2013 in Uttar Pradesh haben Klagen eingereicht, und einige Prozesse kommen nun langsam, aber vielversprechend voran.
Indische Muslime wehren sich dagegen, dass ihnen im eigenen Land die Bürgerrechte streitig gemacht werden. Sie wollen nicht mehr mit Lippenbekenntnissen zu kulturellen Minderheitenrechte abgespeist werden. Sie fordern ihre Rechte als gleichberechtigte Bürger eines demokratischen Landes.
Identität spielt eine wichtige Rolle in ihrer Sehnsucht nach sozialer und politischer Partizipation. Aber sie ist nicht im Sinne von religiöser Dogmatik wichtig, sondern in dem Sinne, dass sich Muslime in Gesellschaft, Staat und Politik positionieren.
Ghazala Jamil
© Entwicklung und Zusammenarbeit 2015
Ghazala Jamil ist Dozentin am Centre for the Study of Law and Governance an der Jawaharlal Nehru University in Delhi.