Der arabische Fluch
Trotz zaghafter Reformen in einigen arabischen Ländern ist die Mehrheit der autoritär regierenden Herrscher nicht bereit, ihre Machtbefugnisse einzuschränken. Wie erklären sich Reformunwilligkeit und Erbherrschaft in einer der "demokratiefreiesten" Regionen der Welt? Antworten von Noureddine Jebnoun
Die 22 Mitgliedsstaaten der Arabischen Liga bilden die einzige Großregion der Welt, in der es keine demokratischen Regierungen gibt. Seit den 1980er Jahren attackiert der voran schreitende politische Islam die autokratischen und militärisch gestützten Regimes an.
Bis zum Ende der 1990er Jahre gelang es Marokko, den Schein einer etablierten inländischen Opposition in Form der nationalistischen Istiqlal-Partei zu wahren. Und bis 2003 konnten weniger aufmerksame Beobachter der politischen Szenerie den Eindruck gewinnen, dass der Irak ein säkulares Land sei. Und Tunesien, Ägypten sowie Jordanien galten als Hoffnungsträger für eine angehende Demokratisierung in der Region.
Zwischen Hammer und Amboss
Doch alle diese Illusionen sind gänzlich dahin. In der gesamten arabischen Welt lebt die Bevölkerung unter der strikten Herrschaft autoritärer Regimes einerseits und der islamistischen Opposition andererseits, kurz: zwischen Hammer und Amboss.
Wenn die Despoten dem radikalen Islamismus mit eiserner Faust begegnen, scheint es unvermeidlich, dass die verarmten städtischen Bevölkerungsschichten sich dem politischen Islam zuwenden. Nur in zwei Ländern wird der Versuch unternommen diese Dynamik zu durchbrechen: in Marokko, mit der Hilfe Frankreichs sowie im Irak, mit der US-amerikanischer Hilfe.
Seit mehr als einem Jahrzehnt versucht die marokkanische Monarchie, dieser doppelten Gefahr, die ihr selbst, aber auch der marokkanischen Gesellschaft insgesamt droht, zu widerstehen: dem immer präsenteren Islamismus und der mächtigen Armee, die dazu dient, die bestehende Ordnung aufrechtzuerhalten.
Das Ende der arabischen Utopien
Allerdings schlug auch der Versuch der USA fehl, ihre Vorstellungen von Demokratie in die arabische Welt zu exportieren – insbesondere in den fünf Jahren seit Beginn des Krieges im Irak.
Das offensichtliche Scheitern dieser utopischen Politikansätze steckt für die Araber voller Gefahren. Anhänger des Kriegs im Irak hofften, dass die Beseitigung des schlimmsten Diktators in der Region den Anfang einer Demokratisierungswelle bedeuten würde. Die Argumentation war simpel: Die arabischen Massen stünden nur deshalb hinter den Islamisten, weil der Islam die einzige bestehende Opposition gegen die Diktatur darstellen würde, die sie, im Namen Gottes, beseitigen werde.
Der Fall eines Tyrannen muss die gesellschaftlichen Beziehungen und die politisch-religiösen Spannungen minimieren, von der zerstörerischen Wirkung der Diktatur und den ethnischen und sektiererischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten gar nicht zu sprechen.
Autoritäre Herrschaft oder Chaos?
Der Blutzoll ist hoch, das Ergebnis tragisch. Diejenigen, die der Demokratisierungsfähigkeit der arabischen Länder skeptisch gegenüber stehen, sehen sich in ihren Zweifeln bestätigt.
Zyniker, die Gewalt als einzig probates Mittel zur Sicherung der Ordnung in den arabischen Ländern betrachten, finden sich in ihrem Glauben ebenfalls bestätigt. Die politisch Leichtgläubigen, die gedacht hatten, dass der Sturz eines Despoten sozialen Frieden bringen könnte, sind inzwischen kurz davor, jegliche Hoffnung fallen zu lassen.
Die autoritären arabischen Regimes, die sich seit Jahrzehnten auf politische Repression stützen – häufig sogar innerhalb des legal-staatlichen Rahmens, sehen ihre politischen Positionen nun erst recht als gerechtfertigt an:
"Entweder lebt Ihr mit uns oder Ihr wählt das Chaos!" Anhänger der Demokratie unter den Arabern, egal ob Republikaner, Sozialisten, Liberale oder Islamisten, mussten sich damit abfinden, dass sich ihre Hoffnungen auf Gleichberechtigung und Liberalisierung in Luft auflösten: So bleibt ihnen dann oft nur das Exil!
Die Macht der Gerontokraten
Diese tragische Situation führt uns zurück zu dem politischen Status der arabischen Führer, in denen sich der autoritäre Charakter ihrer Regimes sehr anschaulich widerspiegelt. Schaut man auf das Durchschnittsalter ihrer Führer ähnelt die arabische Welt einer Versammlung von Gerontokraten.
Befinden sich unter ihnen doch zwei, die, inzwischen sogar das achtzigste Lebensjahr hinter sich gelassen haben (die Machthaber in Saudi-Arabien und Ägypten), vier weitere sind bereits über 70 Jahre alt (Algerien, Kuwait, Oman und Tunesien). Ein weiterer Regent hat mit seiner über 39jährigen Regierungszeit sämtliche Rekorde – zumindest in der arabischen Welt – gebrochen: Libyens Revolutionsführer Muhammar al-Gaddhafi.
Man könnte denken, dass die arabischen Führer den Ernst der Lage, in der sie sich befinden, nicht einzuschätzen wissen: das Auseinanderfallen ihrer Staaten, die Lähmung des politischen Systems. Warum sonst verfangen sie sich so sehr in ihrem internen "Kalten Krieg"?
Eine Region im internationalen Spannungsfeld
Die US-amerikanische Geostrategie verdankt ihren Impetus vor allem den Angriffen vom 11. September 2001 und der nachfolgenden Kriege gegen Afghanistan und den Irak. Diese Strategie war einer der beiden wichtigsten Pfeiler der amerikanisch-saudischen Achse in der islamischen Welt.
Diese Strategie hätte die arabischen Führer womöglich dazu gebracht, mit ihrer überkommenen politischen Ordnung in der Region zu brechen, wenn keine neue Form des transnationalen, anti-westlichen Widerstandes in der Region (als Folge des Irak-Krieges/Anmerkung der Redaktion) entstanden wäre.
Die Strategie der Klärung zwischen den ehemaligen Schlüsselpartnern aus den Zeiten des Kalten Krieges der USA mit der Sowjetunion, also der islamistischen Bewegung aus dem saudischen, anti-sowjetischen Dunstkreis und ihren amerikanischen Sponsoren, hat sich als besonders zerstörerisch herausgestellt, half sie doch nicht unwesentlich, die Religion zu instrumentalisieren – als Waffe im politischen Kampf.
Erbrepubliken statt Demokratien
Zur gleichen Zeit führte diese Strategie zur Blindheit der US-amerikanischen Außenpolitik, verstärkte die Verwundbarkeit ihrer Nation. Auch führte diese Strategie die Inkompetenz der arabischen Führer und der intellektuellen Eliten vor Augen und ließ nicht zuletzt die brüchige Fassade des politischen Systems erkennen, das sich die arabischen Länder seit ihrer Unabhängigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut hatten.
Und trotz dieses Umbruchs sind bis heute keine größeren Erneuerungen innerhalb des arabischen politischen Systems zu verzeichnen gewesen.
Die Verjüngung der arabischen Führungseliten in den letzten beiden Jahren des 20. Jahrhunderts im Zuge politischer Nachfolgen — Abdullah II. in Jordanien und Mohammed VI. in Marokko, Bashar Assad in Syrien und Hamad Ben-Issa in Bahrain – in Kombination mit einer "Medienexplosion", die die arabischen Ländern in den letzten 25 Jahren erlebt haben, erweckte den Anschein, dass die arabische Welt im Einklang mit der Moderne lebt.
Wenn sie auch nicht schlagartig zur Demokratie gefunden habe, so doch immerhin zu einer modernen und formalen Entsprechung, einer "Demokratie dem Anschein nach", die durch die Informationsgesellschaft befördert wird.
All diese Veränderungen aber sind Illusionen geblieben. Die Dynastie-Linien sicherten einen reibungslosen Übergang der Generationen, im Gegensatz zu den Coup d'états früherer Zeiten. Und doch hat die Verjüngung der Eliten bisher zu keiner Regeneration des Regierungssystems in der arabischen Welt geführt.
Noureddine Jebnoun
© Qantara.de 2008
Übersetzung aus dem Englischen von Daniel Kiecol
Noureddine Jebnoun ist Professor am "Center for Contemporary Arab Studies" an der Georgetown University, Washington D.C.
Qantara.de
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