"Noch kein hinduistisches Pakistan"
Schon im Nachtzug der Indian Railways stellt der Reisende fest, dass er sich auf dem Weg in die muslimische Pilgerstadt Ajmer befindet. Der Schlafwagen ist ein buntes Potpourri an Menschen und Geräuschen. Tobende Kinder, beleibte Frauen in Saris, Geschäftsmänner und eine Gruppe wandernder Hindus.
Mittendrin, auf einer der blau gepolsterten Liegen, sitzen zwei ältere Herren, deren weißer Rauschebart sie unverkennbar als Muslime identifiziert. Plötzlich ziehen die beiden aus ihren Taschen weiße Gebetskappen hervor und nehmen, ohne sich vom Fleck zu rühren, eine konzentrierte Haltung an. Dann schließen sie die Augen, murmeln eine Sure vor sich hin, krümmen ihre Rücken und legen die Hände auf die Oberschenkel.
Das muslimische Ritualgebet, sitzend in einem schaukelnden Zug, irgendwo zwischen den indischen Bundesstaaten Gujarat und Rajasthan. Für einen Moment scheinen die Männer in ihrer Ausrichtung nach Mekka dem Treiben um sie herum entflohen. Niemand von den anderen Passagieren schaut auf, niemand wundert sich über die improvisierte Abendandacht.
Die zwei Pilger sind unterwegs auf einer ziyarat, um Moinuddin Chishti, Indiens populärsten Sufi-Heiligen aus dem 13. Jahrhundert, in seinem Schrein einen Besuch abzustatten. Ajmer zieht Jahr für Jahr viele Millionen Pilger aus dem gesamten Subkontinent an, darunter vor allem Muslime aus allen Ecken des Landes. Unter den Besuchern sind aber auch Hindus, Sikhs und Christen, die Chishti als großen Heiligen ihrer gemeinsamen Heimat anerkennen und verehren.
In weniger als zwei Generationen höchste muslimische Bevölkerung
Indien ist mit 195 Millionen Muslimen nach Indonesien das Land mit der weltweit höchsten muslimischen Bevölkerung. Laut einem Bericht des "Pew Research Centers" aus diesem Jahr wird Indien 2060, also in weniger als zwei Generationen, mit über 300 Millionen die meisten Muslime auf der Erde beherbergen.
Während Indiens Muslime auf dem Subkontinent die mit Abstand am stärksten wachsende Bevölkerungsgruppe sind, scheinen sie zurzeit auch die deutlich verletzlichste von Indiens Minderheiten zu sein. Als Indiens Präsident Narendra Modi 2014 von der BJP sein Amt als Premierminister Indiens antrat, hatten viele von Indiens Muslimen - traditionell Wähler der Kongresspartei - ein ungutes Gefühl. Da waren einerseits Modis unrühmliche Verstrickungen in die anti-muslimischen Progrome in Gujarat im Jahr 2002, andererseits seine Zugehörigkeit zu einer Partei, die sich seit Jahrzehnten eine hindu-nationalistische Politik auf die Fahnen geschrieben hat.
Modi bemühte sich damals, die Sorgen der Muslime zu zerstreuen, indem er ihnen nach dem Erringen der absoluten Mehrheit bei den Wahlen versprach, ein Premierminister aller Inder sein zu wollen. Doch wie sieht es fünf Jahre später aus, nachdem Modi nun ein zweites Mal in seinem Amt bestätigt wurde?
Fest steht: In den Jahren von Modis erster Legislaturperiode hat es in Indien einen deutlichen Anstieg anti-muslimischer Gewalt gegeben. Das wohl beunruhigendste Indiz sind die rund vierzig Lynchmorde an Muslimen, vor allem in Zusammenhang mit dem mutmaßlichen Verzehr von Rindfleisch. Sie zeugen von einem kulturellen Klima, das sich aus einem Überlegenheitsgefühl der Hindus nährt und in dem es zumindest einfacher geworden ist, Minderheiten anzugreifen. Viele der Vorfälle blieben ungeahndet.
Hinzu kommt die weniger schlagzeilentaugliche strukturelle Diskriminierung der Muslime, sei es im Bildungswesen, auf dem Wohnungsmarkt oder in der Gesundheitsversorgung. Diese hat es schon immer gegeben, wurde aber unter der BJP-Führung weiter zementiert. All dies hat bei Muslimen in vielen Regionen in den letzten Jahren den Eindruck verstärkt, in ihrem Land nicht mehr gewollt und bestenfalls nur noch geduldet zu sein. Besonders in Nordindien fühlen sich Muslime in ihren angestammten Wohngegenden häufig nicht mehr sicher.
Nach einem stark polarisierenden Wahlkampf, bei dem die Themen Sicherheit und Pakistan als Feindbild standen, sehen Kritiker Modis Partei auf einer mehr oder weniger offenen Mission: den Säkularimus, einst festgeschrieben von Indiens erstem Staatsmann Nehru, langsam aber sicher aus der Verfassung zu streichen und einen sogenannten Hindutva-Staat zu errichten.
Jahrhundertelanger Geist des friedlichen Zusammenlebens
Am Schrein von Ajmer ist von solchen Ängsten und Bedrängnis wenig zu spüren. Wie jeden Abend hat sich auch heute eine große Zuschauermenge um die Qawwali-Musiker geschart, die ekstatisch klatschend die Hymnen großer Sufi-Dichter in den von Räucherstäbchenduft erfüllten Nachthimmel schmettern. Im Publikum sitzen Männer und Frauen gemischt. Es ist schwer auszumachen, wie viele Nichtmuslime sich dieses Mal hier eingefunden haben. Der Schrein von Moinuddin Chishti ist einer jener Orte in Indien, die symbolisch für den jahrhundertelangen Geist des friedlichen Zusammenlebens der Religionen auf dem indischen Subkontinent stehen.
An den zahlreichen Sufischreinen in Indien und Pakistan lässt sich dies besonders anhand des für Südasien so typischen Zusammenflusses von religiös-spirituellen Traditionen festmachen. So übernahmen Muslime bei ihrer Ankunft in Südasien oft hinduistische Bräuche und Feste, wobei sich ein ganz eigener indischer Volksislam herausbildete. Moinuddin Chishti von Ajmer gründete seine Lehre auf den Maximen von Toleranz und friedlichem Zusammenleben. Sein Credo: "Liebe allen gegenüber, Boshaftigkeit niemandem gegenüber".
Verlässt der Besucher den Schreinkomplex durch einen der Hinterausgänge, verliert er sich bald in einem unübersichtlichen Labyrinth aus engen übervölkerten Gassen. Hier bieten Händler Devotionalien feil, Suppenköche kochen Mahlzeiten zur Stärkung der Pilger und hier setzen Cliquen von Bettlern auf das Pflichtbewusstsein zum Almosengeben unter muslimischen Glaubenstouristen.
In einer dieser Gassen hat die “Chishty Foundation” ihr Hauptquartier, eine von Nachkommen Moinuddin Chishtis gegründete Stiftung, die sich den interreligiösen Dialog und das Friedensengagement auf die Fahnen geschrieben hat. Im Keller des unscheinbaren Wohnhauses betreibt Seyyed Salman Chishty, Vorsitzender der Stiftung, eine Bibliothek, die auch als Dialog- und Veranstaltungszentrum dient.
Interkulturelle Begegnung auf Augenhöhe zu pflegen ist eines der Hauptanliegen der Chishty Foundation. "Ajmer ist für Indien und darüber hinaus ein Ort des Friedens und der Hoffnung", sagt Salman Chishty.
Wie zum Beweis lädt Salman Chishty am nächsten Tag zu einem Seminar ein, bei dem die geistigen Führer der 500.000-Einwohner-Stadt Ajmer aufeinander treffen. Auf Einladung des Netzwerks "United Religions Initiative" haben ein muslimischer Sheikh, ein Hindu-Priester, ein Sikh-Oberhaupt mit Turban, ein orange verhüllter Mönch und ein örtlicher Pastor auf dem Podium Platz genommen. Nach einer Runde von Gebeten werden Perspektiven zum indischen Geist des Zusammenlebens ausgetauscht. "Die Welt kann von uns in Indien lernen", resümiert der Sikh-Priester nach einer Weile und erntet dafür Applaus.
Worthülsen und zuckerige Lippenbekenntnisse, könnte man denken, doch der Geistliche kann sich mit seinen Aussagen zumindest auf einige Jahrhunderte indischer Geschichte stützen. Ob im progressiven hindu-muslimischen Gedankenaustausch unter Mogulherrscher Akbar, im Zusammentreffen von wandernden Sufipredigern und Brahmanen in Kaschmir oder der friedlichen Herausbildung eines von Kaufmännern beförderten Islam an der Konkanküste im indischen Südwesten. Als Christen im heutigen Kerala eintrafen, um unter Hindus zu missionieren, sollen sie einer populären Erzählung zufolge verzweifelt gewesen sein: Die Einheimischen nahmen das Jesuskreuz dankbar entgegen und platzierten es einfach zwischen die anderen Statuen im Hindutempel.
Indien setzte über Jahrhunderte hinweg auf Inklusion statt auf Ablehnung, auf Zusammenfluss statt auf Spaltung. Natürlich mangelt es in der Geschichte des Subkontinents ebenso wenig an Episoden von Eroberung und Blutvergießen. Doch trotz aller negativen Entwicklungen kann man weiterhin hoffen, dass diese urindische Haltung vielerorts weiterleben wird, so wie sie auch Stürme und Angriffe in der Vergangenheit überlebt hat.
Zwar hat sich das gesellschaftliche Klima insgesamt verschlechtert, so hat es zumindest in den letzten fünf Jahren keine großen Unruhen oder Progrome gegeben, die Indien in unregelmäßigen Abständen immer wieder erschüttern.
Verantwortung der Massenmedien
Auch wenn die Zeichen nicht gut stehen mögen und westliche Kommentatoren Indiens Pluralismus zunehmend gefährdet sehen, darf man nicht vergessen: Indien ist äußerst divers und zudem in vielerlei Hinsicht resilient. Hinzu kommt, dass tatsächlich nur rund ein Drittel der Inder für Modi gestimmt haben. Dass Modi trotzdem die absolute Mehrheit erringen konnte, liegt an der Zersplitterung der indischen Parteienlandschaft.
Ein Schlüssel zur Friedensstiftung liegt in der gesellschaftlichen Verantwortung der indischen Massenmedien. Diese vermitteln schon seit Jahren den Eindruck, das Land befinde sich in einem stetigen "Kampf der Kulturen". Der Einfluss einer solchen selektiv-spalterischen Berichterstattung und Stimmungsmache auf Kosten des indischen Volkes ist nicht zu unterschätzen. Beispiele für ein funktionierendes Zusammenleben, wie etwa das gemeinsame Feiern von religiösen Festen, bleiben eher unterbelichtet.
Letztendlich muss sich eine wache Zivilgesellschaft herrschenden Narrativen gegenüberstellen und den Pluralismus aus einem tiefen Werteverständnis heraus verteidigen. Der renommierte Historiker und Politologe Ramachandra Guha schrieb kürzlich in einem Leitartikel für den indischen "Telegraph", die Verpflichtung der indischen Verfassung gegenüber dem Pluralismus sei trotz aller Anlässe zur Sorge nach wie vor intakt. Er warnte aber auch: "Indien ist noch kein hinduistisches Pakistan, aber ist näher daran eins zu sein als es seit seiner Gründung je war".
Marian Brehmer
© Qantara.de 2019