Jasminduft und Pulverdampf
Es mag auf den ersten Blick zynisch wirken, die jüngsten Ereignisse in Tunesien und insbesondere den Tod Dutzender junger Menschen mit dem üppigen Duftbouquet der Jasminblüte in Verbindung zu bringen. Und doch hat es Sinn. Denn zum einen ist Präsident Zine El Abidine Ben Ali, der am Freitag Abend aus dem Land gejagte Herrscher über Tunesien, durch die sogenannte Jasmin-Revolution zu seinem Amt gekommen; eine unblutige Machtergreifung, die sich formaljuristisch auf ein Gesetz abstützen konnte, wonach bei erwiesener Senilität des Präsidenten automatisch der Innenminister dessen Amt einnimmt. Genau dies geschah am 7. November 1987.
Seither regierte der ehemalige Geheimdienstoffizier Ben Ali als absolutistischer Herrscher über das kleine Maghrebland, pseudodemokratisch legitimiert durch eine Reihe von Wahlen, deren Resultate nicht nur von Ferne an die Zeiten des Stalinismus erinnern. Als Autokrat trägt er die Verantwortung für die Fehlentwicklungen, die zu den Tragödien der letzten Tage und Wochen geführt haben. Dieser Verantwortung hat er sich durch seine überstürzte Flucht nun entzogen.
Ein lebensfroher Menschenschlag
Die Jasminblüte steht aber auch für einen spezifisch tunesischen Volkscharakter und Lebensstil, ohne den die Herrschaft Ben Alis nur schwer erklärbar ist. Jenseits platter Klischees darf konstatiert werden, dass die Tunesier ein eher lebensfroher, den angenehmen Dingen des Lebens zugeneigter Menschenschlag sind.
Von ihren algerischen Nachbarn öfters als weich, feige und wenig kampfbereit karikiert, setzen die Tunesier gerne andere, je nach Sichtweise kleinbürgerliche oder hedonistische Schwerpunkte. Sie gelten als "Khobsistes", die dem täglichen Brot (Khobs heisst Brot), einer gesicherten Existenz und gewissen Annehmlichkeiten mehr Gewicht beimessen als abstrakten Idealen und Prinzipien.
Genau darauf hat Ben Ali seit den ersten Tagen seiner Herrschaft gesetzt. Er hat seinem Volk Sicherheit vor islamistischer Agitation und einen gewissen, allerdings sehr relativen, Wohlstand in Aussicht gestellt, die bürgerlichen Freiheiten aber gleichzeitig von Jahr zu Jahr mehr eingeschränkt. Schwere Menschenrechtsverletzungen waren die vergangenen 23 Jahre an der Tagesordnung, politische Parteien wie auch zivilgesellschaftliche Organisationen wurden an straffer Leine geführt oder verboten, und die Freiheit der Medien war mittlerweile nahe am Nullpunkt angelangt.
Das Regime scheute sich dabei nicht, gegen Oppositionelle und kritische Bürger mit Brachialgewalt vorzugehen. Dabei wurden in den letzten Jahren wiederholt angesehene Anwälte, Menschenrechtsaktivistinnen und Professoren ins Gefängnis gesteckt, zusammengeschlagen oder auf andere Weise drangsaliert. Auch ausländische Journalisten sind im Visier der Sicherheitskräfte; so kommt es vor, dass unbequeme Rechercheure mit einer chemischen Beigabe zum Kaffee zumindest zeitweise außer Gefecht gesetzt werden.
Doch nun hat sich der in Tunesien allgegenwärtige, süßliche Duft des Jasmins mit scharfem Pulverdampf vermischt. In einer Provinzstadt im Hinterland ist es vor rund einem Monat, wie bekannt, zur Selbstverbrennung eines jungen Universitätsabgängers gekommen, der sein Dasein als Gemüse- und Früchtehändler fristen musste und dabei von den Behörden schikaniert wurde.
Diese erste Verzweiflungstat löste eine Welle von zuerst friedlichen, später zunehmend gewalttätigen Protesten und Angriffen auf Symbole der staatlichen Macht aus, die sich wie ein Flächenbrand aufs ganze Land ausgeweitet hat. Der Umstand, dass die Ordnungskräfte auf diese Revolte mit unvorstellbar brutaler und vollkommen unangemessener Härte reagiert haben, hat letztlich entscheidend zum Sturz des Regimes geführt.
Die Bilder über Tote und Schwerverletzte in Provinzstädten im Hinterland, über Internet und die neuen sozialen Netzwerke blitzschnell verbreitet, haben eine gewaltige Welle der Empörung ausgelöst, der das Regime außer Polizeiknüppeln, Maschinengewehren und hohlen Phrasen nicht mehr entgegenzusetzen hatte. Das ist ein riesiges Drama, das dem Image des kleinen, wirtschaftlich relativ erfolgreichen Maghrebland nachhaltig Schaden zufügt. Denn wenn es stimmt, dass die Tunesier "Khobsistes", Revolutionen und Aufständen eher abgeneigte Menschen sind, dann müssen diese lauten Proteste erst recht als Alarmzeichen gewertet werden.
Sie signalisieren zum einen, dass es in Tunesien ein seit Jahrzehnten vernachlässigtes Hinterland gibt, das von den durchaus wahrnehmbaren Fortschritten in den grossen Städten nichts oder nur wenig zu spüren bekommt. Vor allem aber sind diese Proteste Ausdruck einer tiefen Frustration, eines extremen sozialen Malaise, einer bodenlosen Verzweiflung; des Gefühls, zu kurz zu kommen und vom Staat und den Machthabern systematisch übergangen und verachtet zu werden.
Ausgeblendet im öffentlichen Diskurs
Sozialpsychologen werden sich vielleicht schon bald mit den vielschichtigen Motiven der jungen Manifestanten von Kasserine, Makhtar und Sidi Bouzid beschäftigen. Die jungen Menschen in diesen armseligen Städten im Hinterland hätten schlicht das Gefühl, "im falschen Film" zu sein, beschreibt ein versierter Kenner der Verhältnisse die Lage, der aus Rücksicht auf befürchtete Sanktionen des Regimes anonym bleiben möchte.
Ihre gravierenden Alltagsprobleme und ihre prekäre Lebenssituation würden in der öffentlichen Debatte und nicht zuletzt in den Medien in keiner Art und Weise gespiegelt. Stattdessen würden die Menschen tagtäglich mit Meldungen über außergewöhnliche Leistungen, Ehrungen und Auszeichnungen von Ben Ali bombardiert. Viele ertrügen dies schlicht nicht mehr. Alles weist darauf hin, dass der gestürzte Präsident Ben Ali den Bezug zur Alltagsrealität seiner Landsleute schon lange verloren hatte.
Indem Ben Ali in einer Fernsehansprache am 10. Januar (im Staatsfernsehen) die jungen Demonstranten als "Terroristen" brandmarkte, brachte er klar zum Ausdruck, dass er die politische Botschaft der Revolte in keiner Art und Weise verstanden hatte. Gleichzeitig zeigte sich der Autokrat unfähig und unwillig zu einem echten Dialog mit seinem Volk und teilweise blind gegenüber den wahren Problemen; seine Rezepte – die Schaffung von 300.000 neuen Arbeitsplätzen für Universitätsabgänger, die schon zwei Jahre arbeitslos sind – zeigt zudem einen eklatanten Mangel an Visionen und Strategien, um den strukturellen Problemen des Landes längerfristig zu begegnen.
Bis vor kurzem schien es, als geniesse der autokratische Präsident trotz alledem immer noch eine gewisse Autorität – und sei es nur als Garant der inneren Sicherheit des Landes. Der Ruf seines gesamten Clans war aber schon seit Jahren katastrophal. Dazu zählen die Präsidentengattin, Leila Trabelsi, deren Brüder mitsamt ihren Söhnen, ein Bruder von Ben Ali sowie der Ehemann der Tochter des Präsidenten.
Die zumeist ungebildeten Mitglieder des Familienclans hatten in den letzten zwei Jahrzehnten auf illegale oder halblegale Weise - und ohne jegliche Hemmung - ein gewaltiges Vermögen zusammengerafft. Und sie scheuten sich auch nicht, Macht und Reichtum schamlos zur Schau zu stellen. Gerüchte über die dabei angewandten, zumeist äußerst kruden Methoden waren schon seit langem in jedem Café in Tunesien zu vernehmen. Insbesondere Leila Trabelsi, die "Regentin von Karthago", deren schwindelerregender Aufstieg aus einem kleinen Friseursalon an die Schalthebel der Macht im gleichnamigen Buch in allen Details nachgezeichnet wird, ist mittlerweile zu einem Hassobjekt ersten Ranges geworden.
Nun hat die "Familie" das Land fluchtartig verlassen; wären sie geblieben, hätten sie damit rechnen müssen, von der aufgebrachten Menge gelyncht zu werden. Viele Ihrer Villen und Luxusautos sind denn auch bereits geplündert und in Brand gesetzt worden.
Hoffnung auf Veränderung?
Trotz des Ausmasses dieser Revolten – die letzten vergleichbaren Aufstände fanden im Jahr 1984 statt und wurden von Ben Ali im Keim erstickt – glaubten die allermeisten Experten bis vergangenen Freitag nicht an eine akute Gefährdung des Regimes. Ganz anders die international bekannte Oppositionelle und Buchautorin Sihem Bensedrine: Sie vertrat schon Anfang der vergangenen Woche die Meinung, Ben Ali werde diese Revolte nicht überstehen. Bensedrine, die in ihrem Buch "Despoten vor Europas Haustür" die Herrscher des Maghreb in gnadenloser Schärfe analysiert hat, hat Recht behalten.
Aus der Jugendrevolte ist ein landesweiter Aufstand geworden, der das Regime des verhassten Autokraten hinweggefegt hat. Die Konzessionen, die Ben Ali in den letzten 48 Stunden vor seiner Flucht gemacht hatte, konnten seinen Thron nicht mehr retten (so entließ er zuerst den Innenminister, dann die gesamte Regierung, versprach Neuwahlen, die Aufhebung der Internetzensur und eine Senkung der Preise von Grundnahrungsmitteln).
Für Tunesien und den ganzen Maghreb ist das Geschehene ein historischer Moment, der ohne Zweifel in die Geschichtsbücher eingehen wird. Ein friedliches Volk, das von einem brutalen, räuberischen Regime drangsaliert und unterdrückt worden ist, verjagt seine Unterdrücker ohne selber zu den Waffen zu greifen. Der Vergleich mit den Vorgängen in der ehemaligen DDR drängt sich auf, auch wenn vieles zurzeit noch unklar ist.
Tunesien steht allerdings vor einer schwierigen, unsicheren Zukunft. Die Gewalt eskaliert in dem kleinen Maghrebland: Plünderungen, blutige Abrechnungen und Ausbrüche blinder Gewalt stehen derzeit an der Tagesordnung. Und noch weiß bislang niemand, wie sich die Dinge entwickeln werden. Doch ein bleierner Deckel, der sich während Jahrzehnten über dem Land des Jasmins gelegt hatte, ist nun endgültig weggesprengt worden.
Beat Stauffer
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de