Was denken Muslime über den Westen?

Das Gallup-Institut untersuchte sechs Jahre lang die Einstellung von Muslimen. Das erstaunliche Ergebnis: Die westliche und die muslimische Gesellschaft verbindet mehr als man meinen könnte.

Von Peter Philipp

​​In einem wahren Jahrhundert-Projekt hat sich das Washingtoner Gallup-Institut vorgenommen, die umfassendste Befragung der Menschheit ("Gallup World Poll") durchzuführen, die je vorgenommen wurde. Ziel dieser Umfragen ist es, "den Menschen die Gelegenheit zu geben, gehört zu werden" und auch politischen Entscheidungsträgern ein Instrument an die Hand zu geben, die Menschen besser zu verstehen.

Seit dem 11. September 2001 sah man bei Gallup besondere Dringlichkeit in der Erforschung von Meinungen in der muslimischen Welt, und man begann noch im selben Jahr mit Umfragen in neun muslimischen Ländern.

Es ist das erste Mal, dass solche Befragungen zu sozialen, religiösen und politischen Themen in muslimischen Ländern durchgeführt wurden.

Inzwischen ist die Umfrage im Rahmen des "World Poll" auf über 40 muslimische Staaten und Staaten mit muslimischer Minderheit ausgeweitet worden. Die ersten Ergebnisse sind in einem 500-Seiten-Werk enthalten, das am 8. März in Washington veröffentlicht wurde.

Theokratie und Demokratie

Dalia Mogahed, Projektleiterin bei Gallup, ist stolz auf diese ersten Ergebnisse, weil sie doch einiges widerlegen, was bisher landläufige Meinung im Westen über Muslime war – etwa, dass Muslime gegen Demokratie eingestellt seien:

"Nach unserer Untersuchung wissen Muslime in aller Welt die grundlegenden Prinzipien der Demokratie zu schätzen, wie Rechtsstaatlichkeit, Transparenz und eine verständnisvolle und engagierte Regierung", berichtet Mogahed.

Die Muslime wären ebenfalls davon überzeugt, dass die Rolle religiöser Prinzipien wichtig sei bei der Gestaltung dieser Demokratie. Sie wollten daher weder eine gänzlich säkulare Demokratie noch eine Theokratie, so Mogahed.

Es gebe auch keinen Widerspruch zwischen Islam und Demokratie. Zumindest sei dies aus den Antworten der Befragten nicht herauszuhören, die durchweg auch kritisch gegenüber ihrem eigenen System eingestellt waren und daher nicht unter Druck standen, "nur systemkonforme Antworten" zu geben.

Auf die Frage, ob die Mehrheit der Muslime daran denke, dass der Islam mit der Demokratie nicht kompatibel sei, antwortet Mogahed:

"Es gibt sicher Dinge, die einen das glauben machen könnten, denn viele Muslime leben nicht in einer Demokratie. Wir finden aber, dass die öffentliche Meinung durchaus für Demokratie eingestellt ist. Und dass da etwas anderes verhindert, dass die Demokratie der Region zu blühen beginnt. Nicht, dass die Leute nicht daran glauben oder es nicht wollen, sondern dass da andere Kräfte mitspielen."

Glaube und Freiheit bei Musliminnen

Nicht viel anders sei es hinsichtlich der Einschätzung der Rolle der Frau im Islam, meint Dalia Mogahed. Auch hier seien viele Klischees verbreitet, die sich aber nicht mit der Realität im muslimischen Alltag decken:

"Es scheint ein tiefes Missverständnis in beiden Richtungen zu geben, wenn es um die Rolle der Frau geht. Viele im Westen – besonders in den USA und in Europa – sagen, dass sie ihr größtes Problem damit haben, den Status der Frauen im Islam zu verstehen. Wenn wir aber Frauen in muslimischen Gemeinden selbst fragten, dann fanden wir heraus, dass ihr Glaube ein wichtiger Teil ihres Leben war."

Viele Frauen erachteten ihren Glauben als persönlich wichtig und als Schlüssel zum Fortschritt in ihrer Gesellschaft. Sie schätzten ihren Glauben, gleichzeitig aber auch die Gleichberechtigung, das heißt das Wahlrecht, das Recht auf Bildung, Arbeit etc. Und sie sahen keinen Widerspruch zwischen ihrem Gauben und ihrer Freiheit, berichtet Mogahed.

Interessant sei, dass sich zum Beispiel in Ägypten die Mehrheit der gebildeten Frauen religiös orientiere in der Religion eher Unterstützung gefunden hätten, wohingegen in der Türkei die Religion lange als etwas Rückständisches verdrängt worden sei. Nachdem die Türkei sich nun aber rasch modernisiere und demokratisiere, werde dort zum Beispiel das Kopftuch von Frauen als Ausdruck ihrer persönlichen Freiheit betrachtet. Auch ihrer Freiheit zur religiösen Entfaltung.

Gemeinsamkeiten USA und Iran

Eine Umfrage unter Muslimen wäre unvollständig, wenn man den Iran ausließe, der seit Jahrzehnten mit dem Modell der "Islamischen Republik" neue Maßstäbe zu setzen versucht: "Es gibt eine erstaunliche Ähnlichkeit was die Meinung im Iran und in den USA betrifft", meint Mogahed.

"Wir haben zum Beispiel herausgefunden, dass Iraner – genau wie Amerikaner – glaubten, dass religiöse Führer keine direkte Rolle bei der Gesetzgebung spielen sollten. In beiden Bevölkerungen finden wir aber auch, dass eine Mehrheit religiösen Prinzipien eine Rolle bei der Unterrichtung der Legislative zugesteht."

In den USA glauben 57 Prozent, dass die Bibel eine Grundlage der Gesetzgebung sein sollte. Neun Prozent davon glauben, dass sie die einzige Grundlage sein sollte. Ähnlich glaubt im Iran ein Mehrheit, dass die Scharia eine Quelle der Gesetzgebung sein sollte, wenn auch nicht die einzige.

"Wir fanden auch heraus, dass eine ähnlich hohe Prozentzahl sagt, dass Religion eine wichtige Rolle in ihrem Leben spielt", so Mogahed. "67 Prozent sind es bei den Amerikanern und 73 Prozent bei den Iranern. Und dennoch unterscheiden sich diese Zahlen von Europa, wo nur etwa ein Drittel der Menschen sagt, dass Religion eine wichtige Rolle in ihrem Leben spielt."

Starke Identifizierung mit der Wahlheimat

Die Gallup-Untersuchung hat für Europa auch aus einem anderen Grund eine besondere Bedeutung. Die Umfrageergebnisse widerlegen die weit verbreitete Ansicht, was seit einiger Zeit – nach einer Reihe von Zwischenfällen – immer häufiger und lautstärker argumentiert wird, nämlich, dass Muslime dazu neigen, sich in einer "Parallelgesellschaft" abzukapseln. Dalia Mogahed hält diesbezüglich fest:

"Wir haben uns die muslimische Minderheitsmeinung in Paris, London und Paris angesehen und die Meinung der Muslime in diesen drei Hauptstädten mit der generellen Haltung in den drei Ländern verglichen. In allen drei Hauptstädten war vielleicht das wichtigste Ergebnis, dass Muslime eine genau so starke Identifizierung mit ihrem Land – also Großbritannien, Frankreich und Deutschland – hatten, wie die breite Öffentlichkeit. Gleichzeitig identifizierten sie sich aber auch stark mit ihrem Glauben und ihre religiösen wie nationale Identität schlossen einander nicht aus."

Peter Philipp

© DEUTSCHE WELLE 2008

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Hier geht es zur englischen Homepage des Gallup-Instituts.