Verhärtete Fronten
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Die heutige Verfassung der Türkei von 1982 ist ein Geschöpf des Militärs, entworfen und verabschiedet unter der Vormundschaft der Generäle, die 1980 die Macht ergriffen hatten. Sie engte die politischen Rechte und Freiheiten soweit ein, dass sich das Militär in die Kasernen zurückziehen und trotzdem sicher sein konnte, dass Gesellschaft und Politik die ihnen zugewiesenen Laufställe nicht verlassen.
Die Politik, sprich die Regierung und die politische Parteien, die sie tragen, muss seitdem ihre Macht mit einer ganzen Reihe von Institutionen teilen, die nur mäßig demokratisch legitimiert sind: Der Nationale Sicherheitsrat, in dem keine Entscheidung gegen die Generäle gefällt werden, bestimmt die Grundlinien der Politik und hatte bis 2003 ganz offiziell das Recht, sich in das Handeln aller Behörden einzumischen.
Schaltstelle zwischen Staat und Militär
Das Militär ist Staat im Staate und regelt sein Budget und seine Beförderungen selbst. Der Hohe Hochschulrat bestimmt die universitäre Landschaft, und der Hohe Justizrat bestimmt über das Schicksal der Staatsanwälte und der Richter. Für die Besetzung all dieser Räte und auch für die Ernennung der leitenden Beamten in den Ministerien ist der Staatspräsident zuständig, in der Türkei eine Art Schaltstelle zwischen Regierungschef und Militär.
Diese zentrale Stellung des Staatschefs erklärt die Aufregung um die Wahl Abdullah Güls im letzten Jahr. Das Militär drohte damals mit einem Putsch, und das Verfassungsgericht annullierte Güls Wahl durchs Parlament, so dass Neuwahlen nötig wurden.
Doch damit nicht genug. Zusammen mit einer Reihe von Gesetzen stellte das Grundgesetz von 1982 große Teile der türkischen Gesellschaft politisch einfach still. Parteien wurde die Einrichtung von Jugend- und Frauenverbänden untersagt, Vereine durften sich nicht politisch äußern, und den Gewerkschaften wurde das Streikrecht eingeschränkt. Kurdisch zu sprechen war jetzt strafbar, und in den Schulen mussten alle in den verpflichtenden Religionsunterricht.
Die Bildungs- und Kulturpolitik folgte der "türkisch-islamischen Synthese", die die gesamte Nation auf die gleiche türkisch-muslimische Identität einschwörte. Jede andere Orientierung geriet schnell in den Verdacht des Vaterlandsverrats und des Separatismus.
Kulturelle Uniformität
Zwar hat besonders die EU-Anpassung viele dieser Einschränkungen beseitigt oder zumindest reduziert, doch ist der Spielraum der Regierungen der Bürokratie oder Nomenklatura gegenüber noch immer eingeschränkt, und nach wie vor herrscht ein deutlicher Druck zu kultureller Uniformität.
Mit beidem hat die AKP (die Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei) von Premierminister Recep Tayyip Erdogan ihre Probleme. Eine neue Verfassung soll die Rechte des Parlaments und der Regierung der Nomenklatura gegenüber stärken und die Rechte des Einzelnen dem Staate gegenüber besser schützen.
Anfang Januar wollte Erdogan die neue Verfassung auch dazu nutzen, seinen Stammwählern, die oft fromme Muslime sind, zwei religionspolitische Geschenke zu machen, die ohne eine Verfassungsänderung nur schwer realisierbar sind.
Ideologische Präsente
Der obligatorische Religionsunterricht sollte zu einer Religionskunde umgestaltet werden, damit zusätzlich ein fakultativer Islamunterricht installiert werden kann. Zum zweiten sollte das Verbot des Kopftuchs an den Universitäten, das seit zwanzig Jahren besteht, jetzt endlich aufgehoben werden. Das wären, nach mehr als fünf Jahren AKP-Regierung, die ersten ideologischen Präsente der Partei an jene Wähler, die ihr primär aus religiöser Überzeugung ihre Stimme geben.
Doch für die sozial-nationalen Parteien im Parlament, die CHP und DSP waren diese Vorhaben mehr als genug, um jede Diskussion über eine neue Verfassung bereits im Keim zu ersticken. Besonders die Pläne zur Aufhebung des Kopftuchverbots führten dazu, dass die kemalistische Fraktion lieber bei dem bleiben wollte, was sie hat – auch wenn sie bis vor kurzem selbst noch eine neue Verfassung gefordert hat.
Jetzt schmiedet Erdogan ein Bündnis mit der rechtsnationalen MHP, die ebenfalls seit Jahren gegen das Verbot trommelt. Keine neue Verfassung, sondern eine Verfassungsänderung soll das Verbot jetzt aushebeln und zwar bereits in den nächsten Tage oder Wochen. Politisch ist das kein Problem, den AKP und MHP verfügen über mehr als zwei Drittel aller Stimmen, und 70 Prozent der Bevölkerung befürworten die Reform.
Eng gestrickte Verfassung
Trotzdem kann das Projekt scheitern, denn die alte Verfassung ist juristisch eng gestrickt. Das Kopftuchverbot an den Universitäten beruht auf einem Spruch des Verfassungsgerichts, das sich direkt auf das Prinzip des Laizismus stützt. Und an diesem Prinzip zu drehen, ist nach genau dieser Verfassung verfassungswidrig und verboten, weshalb das oberste Gericht den Parlamentsbeschluss aushebeln kann, zumindest theoretisch.
Damit befindet die Türkei sich wieder in ihrem alten und wohlbekannten Dilemma. Der Schutz einer wie immer aufgefassten "westlichen Lebensform" – das heißt kein Kopftuch an den Universitäten – kehrt sich gegen demokratisch legitimierte konservative Politik, und alles bleibt beim alten.
Ob die Reform nun durchgeht oder nicht, ob das Tuch an den Universitäten frei wird oder verboten bleibt, in jedem Fall verhärten sich die Fronten im Parlament und zwischen der Regierung und dem Militär. Auf der Strecke bleiben damit die demokratischen Reformen, und eine neue Verfassung rückt wiederum in weite Ferne.
Günter Seufert
© Qantara.de 2008
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