Gesellschaftliche Zerreißprobe
Nicht nur in Deutschland und Frankreich wird eine zunehmend ideologische Debatte über das Kopftuch geführt. Auch in der Türkei droht der Streit die Öffentlichkeit immer mehr zu entzweien, wie Dilek Zaptcioglu aus Istanbul berichtet.
Ein alltägliches Bild in Istanbul: Im Bus sitzen sich Kopftuch tragende und schick frisierte Frauen gegenüber. Niemand stört sich am Anblick der Anderen. Keine schaut die Andere vorwurfsvoll an. In großen Einkaufszentren, die nach amerikanischem Vorbild erbaut wurden, spazieren verhüllte neben unverhüllten Frauen. Sie stehen nebeneinander am Wühltisch - die eine trägt das, was sie kauft, offen herum, während die andere es unter einem knöchellangen Mantel versteckt. Sogar beim Friseur begegnen sie sich, denn auch unter dem Kopftuch wollen viele gut aussehen - vor allem junge Frauen.
Vom schönen Schein der Harmonie
Aber die friedliche Atmosphäre täuscht: Kein anderes Thema erhitzt die Gemüter in der Türkei so wie das Kopftuch. Für die einen ist es das Symbol des religiösen Fanatismus und der Unterdrückung der Frau, das letztlich aus dem öffentlichen Leben verbannt werden muss. Eine verhüllte Frau löst bei diesen westlich lebenden Frauen fast ein physisches Unbehagen aus.
Dagegen sind die anderen der Überzeugung, die Verhüllung der Frau sei ein Gebot des Korans und ihr Verbot verstoße gegen die Glaubensfreiheit - eines der obersten Prinzipien der demokratischen Verfassung. Eine unverhüllte Frau ist demnach zumindest eine Sünderin, wenn nicht sogar eine Ungläubige. Auch sie bleiben lieber unter sich, wenn sie die Wahl haben.
Bis hierher liest sich die Beschreibung der türkischen Zustände nicht anders als die in Deutschland oder Frankreich. Tatsächlich ähneln sich die Argumente beider Seiten und auch was die höchst medienwirksame Debatte betrifft, wird sie hier wie dort zunehmend intensiver und leidenschaftlicher geführt.
Frankreichs laizistische Tradition als Vorbild
Mit einem kleinen Unterschied: Im Gegensatz zu den westeuropäischen Ländern ist die Türkei ein vorwiegend von Muslimen bewohntes Land. Also in einem "islamischen Land", in dem alle Einwohner praktizierende Muslime sind? Mitnichten. Denn die Türkei definiert sich seit ihrer Gründung vor 80 Jahren als einen "laizistischen Staat", wo Religion und Politik strikt getrennt werden müssen. Der Staat kontrolliert zwar die Ausübung der Religion. Eine Einflussnahme seitens der Religion auf das politische Geschehen soll aber unbedingt unterbunden werden.
Was den Laizismus betrifft, nahmen sich die türkischen Republikgründer Frankreich zum Vorbild. So wundert es heute niemanden, dass die Franzosen das Kopftuch nun auch aus den Schulen entfernen wollen - ein Thema, das in der Türkei seit Jahrzehnten für große Aufregung sorgt, da Türkinnen von der Grundschule an unverhüllt erscheinen müssen. Schulen und Universitäten sind so etwas wie die Kampfzone des Kopftuch-Streits.
Universitäten als Plattform des Kopftuchstreits
"Die Menschheit hat den Islam zuerst verloren und dann wieder gefunden. Wir sind alle in den 80er und 90er Jahren groß geworden. Wir sind Zeugen des Niedergangs der westlichen Zivilisation! Das religiöse Erwachen geht immer stärker voran!" Das sind Schlagworte verhüllter junger Frauen an der Istanbuler Universität. Frauen die aus ihrer islamistischen Weltsicht keinen Hehl machen. Der Islam ist für die meisten dieser städtischen, gebildeten Studentinnen zu einer Ideologie geworden, die ihnen die Gegenwart deutet und sie in die Zukunft weist.
Das Kopftuch ist schon längst das Symbol für eine "islamische Ideologie" geworden, die den Glauben nicht im privaten Bereich "einsperren" will, da er in jedem Bereich "gelebt" werden will. Diese Frauen interessieren sich auch für den "Widerstand" im Irak oder den Kampf der Tschetschenen gegen die Russen. Sie sind häufig in politischen Vereinen aktiv und lesen zumeist islamistisch-politische Literatur.
Das Kopftuch als andersartige göttliche Koordinate
So unterscheidet sich das heutige, am Nacken gekreuzte und deshalb im Türkischen als "türban" bezeichnete Kopftuch von dem traditionellen, unterm Kinn locker zusammen gebundenen Kopftuch der ländlichen Türkinnen, das stets auch ein paar Haarsträhnen freiließ, ohne dass sich jemand daran störte.
Wie es die bekannte islamistische Juristin Sibel Eraslan jüngst in einem Kommentar über das geplante französische Kopftuchverbot ausdrückt, ist das Kopftuch das Symbol einer "andersartigen, göttlichen Koordinate, die den Grundlagen der westlichen Moderne völlig entgegengesetzt" verläuft.
Eraslan sieht den Westen angesichts der "Kopftuch-Attacke" in Verteidigungsnot und sagt, die Verbote wären mit bestehendem Rechtssystem dieser Länder nicht zu vereinbaren. Der Hass auf das Kopftuch würde auf ein System hinweisen, das "jede Verbindung zum Göttlichen ablehnt". Wie für viele Islamisten ist das Kopftuch auch für Eraslan zum wichtigsten Hebel der Re-Islamisierung geworden.Mal mit, mal ohne Tuch – ein Rückblick
Tatsächlich geht die "moderne Verhüllung" der Türkinnen mit einer stärkeren Rolle des Islam in der Gesellschaft einher. Kopftücher verschwinden aus türkischen Städten in den 30er und 40er Jahren und tauchen dann verstärkt in den 60er Jahren auf.
Davor existiere das Einparteiensystem. Die Republikanische Volkspartei CHP wachte nach streng laizistischer Art sehr genau über die Anwendung der kemalistischen Kleiderreformen: Turbane, Fes oder Kaftane wurden bei Männern verboten. Bei Frauen ist es das schwarze Tuch, "Tscharschaf" (Laken) genannt, das nur das Gesicht oder die Augen offen lässt. Bis heute kann zuhause oder auf der Straße ein Kopftuch getragen werden. Nicht dagegen im staatlichen Bereich: Weder in Schulen und Universitäten noch in Krankenhäusern, Gerichtssälen oder öffentlichen Ämtern ist Verhüllung zugelassen.
"Aufgeklärte Türkinnen" zu erziehen, so lautet das offizielle Ziel. Wenn diese Frauen zu Ärztinnen, Anwältinnen, Ingenieurinnen oder Lehrerinnen heranreifen, müssen sie ebenso dem westlichen, aufgeklärten Frauenimage entsprechen. Das kemalistische Weltbild sieht in der westlichen Zivilisation, genau genommen in den Errungenschaften der Französischen Revolution, den richtigen Weg in die Zukunft. Auf diesem Wege gilt es immer voranzuschreiten.
Der Rückschritt (auf Türkisch:"irtica"), der sich z.B. in einem Kopftuch oder in tiefer Religiosität ausdrückt, wird mit der Zeit besiegt werden. Oder mit den Worten der Politikprofessorin Nur Vergin ausgedrückt: "Der Glaube als solcher ist den Republikgründern suspekt", denn sie führen den traumatischen Niedergang des Osmanischen Reiches vor allem auf die tiefkonservative Interpretation des Islam zurück, der seit Jahrhunderten unter Muslimen dominant ist.
"Der Westen hat gesiegt, weil wir Muslime stagnierten", heißt die Devise der Kemalisten und das Kopftuch der Frau ist das deutlichste Beispiel dieser Stagnation. Von der positivistischen Moderne übernehmen türkische Republikgründer den Glauben an die Wissenschaft, der den Glauben an Gott ersetzen soll.
Furcht vorm Comeback des Kopftuchs
Wie die Soziologin Nilüfer Göle in ihrem viel beachteten Werk "Die verschleierte Republik" (Modern Mahrem) aufzeigt, will die türkische Moderne gerade die Frau befreien - von dem vorherrschenden Patriarchat, von den äußeren und inneren Zwängen, die sie zuhause einsperren und ihr die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben verbieten. Tatsächlich tritt die Türkin erst durch die Republikgründung aus dem Schatten des Mannes und damit selbstbewusst auf die öffentliche Bühne.
Das sind auch die Gründe, weshalb heute viele, vor allem städtische Türkinnen, Angst vor dem Kopftuch haben. Für sie bedeutet das Tuch schlicht die Gegenrevolution, die ihnen ihre von Atatürk nominell verliehenen und später hart erkämpften sozialen Rechte und Freiheiten wegnehmen will. Die zwangsweise Verhüllung der Frauen im nachrevolutionären Iran dient als abschreckendes Beispiel.
Aber ist das wirklich das Ziel der "Kopftuch-Bewegung"? Dann müsste sie eigentlich einen großen Etappensieg errungen haben, denn heute wird die Türkei von einem Kabinett regiert, wo fast jede Ehefrau ein Kopftuch trägt und ihren Körper weitgehend verhüllt.
Im vergangenen Sommer verheiratete der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan seinen Sohn mit einer knapp siebzehnjährigen Schülerin, die in einem Brautkleid getraut wurde, das nur ihr Gesicht und ihre Hände freiließ - ein Bild, das bei nicht verhüllten Frauen starke Aversionen hervorrief: "Ich weigere mich zu akzeptieren, dass diese Frauen mich als Türkin nach außen hin repräsentieren", sagt die Hausfrau Ayla S. und gesteht, dass sie einen Militärputsch akzeptieren würde, wenn nur "diese Kopftücher" aus dem öffentlichen Bereich verbannt würden.
Fragwürdiges Verbot
Aber die meisten der verhüllten jungen Frauen in türkischen Großstädten sind zugleich Töchter Atatürks und der Moderne. Sie wollen nicht zuhause sitzen und auf ihren Mann warten. Sie wollen rausgehen, arbeiten, Geld verdienen und nicht vom Mann unterdrückt werden. Das Kopftuchverbot bewirkt in solchen Fällen gerade das Gegenteil.
Nilüfer Pehlivan musste nach einem vierjährigen Medizinstudium ihren Traum, Ärztin zu werden, aufgeben, weil sie nicht zum Praktikum zugelassen wurde. Von ihrer entscheidenden Begegnung mit ihrem Professor erzählt sie: "Er verglich das mit einer Waage. In eine Schale sollte ich das Kopftuch, in die andere das Studium werfen. Er fragte mich, welche Seite für mich schwerer wog. Dass ich mich zwischen meinem Glauben und meinem Studium entscheiden musste, war ein übler Streich, den man mir spielte. Er sagte, ich solle mich unbedingt für eine Seite entscheiden." Weil ihre Positionen unvereinbar waren, verließ Nilüfer das Zimmer und letztendlich die Universität.
Wie geht es weiter? Das Kopftuchverbot an den Universitäten ist mittlerweile etwas gelockert, aber nicht aufgehoben. Es gibt Universitäten und Hochschulen, die es "lockerer" sehen als andere, wo Studentinnen entweder am Tor ihr Kopftuch ablegen müssen oder zu tragikomischen Methoden greifen, wie eine Perücke überzuziehen.
Drohende gesellschaftliche Polarisierung
Jeder Versuch der regierenden moderat-islamistischen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP oder AK-Partei), das Verbot aufzuheben, ist bisher gescheitert. So arbeiten sich die Befürworter der Verhüllung der Frauen peu à peu voran. Nach einer weiteren Auflockerung des Kopftuchverbots an den Hochschulen wäre das Parlament dran: Bisher leistete der türkische Staat einen großen Widerstand gegen die Präsenz von verhüllten Abgeordneten im Plenarsaal.
Auch diesbezüglich ist die Gesellschaft geteilter Meinung. Fest steht heute in jedem Fall eines: Dass der Streit um die Verhüllung der Frau und um die politischen Entwicklungen, die er symbolisiert, auch in der Türkei an Schärfe zunehmen wird. Dieser Streit ist schon längst nicht mehr zu trennen von den Geschehnissen in Westeuropa, im Irak, in Afghanistan, kurzum in der ganzen Welt. Darin sind sich nämlich alle Seiten einig: Es geht um mehr, als nur um das Tuch selbst - nicht zuletzt um Politik.
Dilek Zaptcioglu, © Qantara.de 2003