Föderalismus als Königsweg

Der syrische Rechtswissenschaftler Naseef Naeem hat eine detaillierte Studie vorgelegt, die die Entstehung, Konstituierung und Konsolidierung der neuen irakischen Verfassung unter die Lupe nimmt. Sebastian Sons stellt sie vor.

Der syrische Rechtswissenschaftler Naseef Naeem hat eine detaillierte Studie vorgelegt, die die Entstehung, Konstituierung und Konsolidierung der neuen irakischen Verfassung unter die Lupe nimmt. Sie liefert zudem eine gute gesellschaftspolitische Einordnung des Nachkriegsiraks. Sebastian Sons stellt die Studie vor.

Unterzeichnung der Übergangsverfassung im März 2004 durch den irakischen Regierungsrat in Bagdad; Foto: AP
Formulierung des föderalistischen Prinzips als Chance für eine stabilere Zukunft - Unterzeichnung der Übergangsverfassung im März 2004 durch den irakischen Regierungsrat.

​​Naseef Naeem argumentiert klar, erfrischend unpolemisch und auch für den juristischen Laien verständlich. Insbesondere seine Beschreibung der juristischen Konfliktlinien während der Entstehung der irakischen Verfassung verschafft einen vielseitigen Einblick in die irakische Gesellschaft – in einer Zeit des Terrors, Bürgerkriegs, juristischen Vakuums und partieller Rechtlosigkeit.

Der irakische Wissenschaftler zeichnet die Entwicklung der verfassungsrechtlichen Prozesse nach dem Sturz Saddam Husseins 2003 bis ins Jahr 2007 nach, erläutert die Tendenz der meisten arabischen Staaten zum zentralistischen Staatswesen. Auch analysiert er ausführlich die einzige föderale Ausnahme im arabischem Raum: die Vereinigten Arabischen Emirate.

Angesichts der aktuellen Unübersichtlichkeit im heutigen Irak stellt die Analyse der unterschiedlichen gesellschaftlichen Positionen in der Debatte um die neue Verfassung einen der interessantesten und lehrreichsten Teile der Studie dar.

Der Irak als künstliches Gebilde

Naeem liefert einen verfassungsrechtlichen Vergleich zwischen dem Irak und anderen Bundesstaaten, wie Deutschland und Spanien. Allerdings begnügt er sich nicht mit einer juristischen Analyse der Zukunft eines irakischen Föderalstaats, sondern er benennt konkrete Verbesserungs- und Lösungsansätze:

Sunnitische Muslime während des Verfassungsreferendums in Kirkuk; Foto: AP
Die Sunniten müssten das Föderalismusprinzip akzeptieren, meint Naeem. Nur so könne aus dem "embryonalen Bundesstaat"</wbr> ein Staat entstehen, der eine irakische Identität entwickle.

​​"Der Irak ist ein künstliches Gebilde (…), aber sie [die Iraker] müssen lernen, angesichts ihrer Vielfalt durch die Herstellung minimaler Einheitlichkeit ein bundesstaatliches Volk in einem Staatssystem zu bilden, um die Fortsetzung des Gebildes (…) zu garantieren."

Sein Fazit fällt dementsprechend nüchtern, aber keineswegs desillusioniert aus: Die Geschichte der irakischen Gesellschaft ist eng verbunden mit europäischer Dominanz und Fremdbestimmung sowie der religiösen und ethnischen Konflikte zwischen Kurden und Arabern oder Schiiten und Sunniten.

Zwar existiere bei den unterschiedlichen irakischen Akteuren der Wille nach Unabhängigkeit und Autonomie. Dennoch lähme der gleichzeitige Unwille zum Kompromiss verfassungsrechtliche Grundsatzentscheidungen, die für den zukünftigen Charakter des Landes grundlegende Bedeutung hätten.

Föderalismus statt Zentralismus

Dabei geht es insbesondere um die Schaffung eines föderalistischen Systems, einer Ordnung des Landes in separate Bundesländer, die der Autor als "unarabisch" ansieht. Denn: "Eine föderale Ordnung (…) habe viele Zentren der Gewalt (…), was die staatliche Einheit in Gefahr bringen könnte."

Darum der Hang zum Zentralismus und deshalb beinhaltet die irakische Verfassung föderalistische Prinzipien und charakterisiert das Land in Artikel 1 als "Bundesstaat".

Während die Kurden und die Schiiten vehement diese verfassungsrechtliche Haltung befürworten, weigerten sich die arabischen Sunniten und kritisierten das föderalistische Prinzip als Mittel der amerikanischen Unterdrückung.

Naeem leitet daraus ab, es handele sich bei dem oberflächlichen Disput um die Bundesstaatlichkeit des Irak vielmehr um die gängige historisch-traditionelle Auseinandersetzung um Macht, Einfluss und Stärke.

Versagen irakischer Eliten

Es geht also bei der Föderalismusdebatte um Separatismus, Schwächung der Nation und Bürgerkriegsgefahr, so Naeem. Trotzdem sieht der Verfasser - insbesondere aufgrund der Formulierung des föderalistischen Prinzips - Chancen für eine stabilere Zukunft des Irak. Ohne den Passus aus Artikel 1 wäre die Gefahr einer Trennung des Nordens und des Südens noch evidenter gewesen und der Irak als Staat dem Zerfall preisgegeben.

Doch dieser föderale Ansatz blieb bisher weit reichende Fortschritte schuldig. Denn die Mängel sind vielfältig. Größtes Manko: Der irakischen Zentralregierung wird verfassungsrechtlich zu wenig Macht zugestanden, die föderalen Regionen sind nur rudimentär an die Bagdader Regierung gebunden.

So fehlen z.B. Kompetenzzuweisungen über die Erdölangelegenheiten an den Gesetzgeber, eine Homogenitätsklausel zwischen den Regionen sowie die scheinbare Reduzierung der bundesstaatlichen Zuständigkeiten zugunsten der Regionen.

Möglichkeiten, die sich aus diesen Mängeln in Form eines politischen Dialogs zwischen den einzelnen Akteuren ergeben, verstrichen bislang ungenutzt. Stattdessen regiert Egoismus, Kompromissunwille und Waffengewalt, konstatiert Naeem.

Der Irak als "embryonaler Bundesstaat"

Das größte Ziel müsse denn auch sein, "dass in der Staatsmentalität der kurdisch-schiitischen Mehrheit die Überzeugung entsteht, dass ein Bundesstaat Irak nicht existenzfähig ist, ohne den Bundesgewalten eine (…) starke Position (…) einzuräumen." Gleichzeitig müssten die Sunniten das festgelegte Föderalismusprinzip akzeptieren.

​​Nur so könne aus dem "embryonalen Bundesstaat" Irak ein Staat entstehen, der eine irakische Identität entwickle und in dem nicht mehr allein Schiiten, Sunniten, Kurden etc. leben, sondern Iraker.

Dies zu realisieren, erscheint zumindest heutzutage unrealistisch, nicht allein aufgrund der instabilen aktuellen Lage, sondern auch aufgrund der widersprüchlichen, konfliktreichen Geschichte des Iraks, dessen Bevölkerung sich nie als Iraker gesehen hat.

Eindruckvoll gelingt es Naeem, die Verfassungsdebatte um die irakische Bundesstaatlichkeit in einen gesellschaftlichen Kontext zu stellen. Die Streitpunkte um Paragraphen und Artikel, um Zuständigkeiten und Dezentralisierungsmaßnahmen beschreibt er als Zustandsbild der irakischen Gesellschaft – zerrissen, verstört, uneins.

Gleichsam sieht der Rechtswissenschaftler gute Chancen für eine bessere Zukunft im Zweistromland, wenn die föderalistischen Verfassungselemente entsprechend umgesetzt werden sollten. Denn dies würde die innere Einigkeit der irakischen Bevölkerung verbessern oder sie gar neu kreieren.

Sebastian Sons

© Qantara.de 2008

Eine Langfassung dieser Rezension finden Sie auf den Seiten des Deutschen Orient-Instituts.

Naeem, Naseef: Die neue bundesstaatliche Ordnung des Irak. Eine rechtsvergleichende Untersuchung, Peter Lang, Frankfurt a.M. 2008, ISBN: 978-3-631-57628-1

Qantara.de

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