Gleichstellung nicht nur vor dem Gesetz
Wenn man Widad Naggar – ihr Name ist geändert – fragt, wie alt sie ist, kann sie nur raten: "Ich müsste um die 46 sein", vermutet die vierfache Mutter aus dem Kairoer Arbeitervorort Helwan. Naggar geht es wie Hunderttausenden Frauen in Ägypten: Ihre Geburt wurde nicht offiziell registriert, daher weiß sie nicht, wie alt sie ist.
Jahrzehntelang hatte sie keine Geburtsurkunde und keinen Personalausweis. Sie konnte weder wählen noch alleine Behördengänge machen. War in der Schule oder auf Ämtern etwas zu regeln, musste immer ihr Ehemann Magdi mit – wegen der Papiere. "Ich habe mich oft geschämt", sagt sie. Irgendwie ging es immer – bis Widads Mann schwer krank wurde und die Familie in Existenznot kam.
"Ich musste Geld verdienen, fand aber ohne Ausweis keine richtige Stelle. Und für den Antrag hatte ich kein Geld." Eines Tages hörte sie zufällig von der ADEW, der Association for the Development and Enhancement of Women.
Die 1987 gegründete ägyptische Frauenorganisation war die erste, die sich gezielt für die Interessen weiblicher Haushaltsvorstände ("mu'ilaat") in Slumvierteln Kairos engagierte.
Die Rechtsberatungsstelle der Organisation half ihr, die Anträge für eine Geburtsurkunde und eine Identitätskarte auszufüllen. Sie wurde sogar aufs Amt begleitet. Zudem zahlte die ADEW die rund fünf Euro Gebühr – eine große Hilfe für Naggar mit ihren 50 Euro Monatseinkommen.
Mit Papieren konnte Widad Naggar nun offiziell als Reinigungskraft bei einem kleinen Entwicklungsverein in ihrem Viertel arbeiten. Was sie verdient, reicht zwar nicht einmal für das Essen für die sechsköpfige Familie, aber Widad Naggar ist trotzdem zufrieden.
"Meine beiden Ältesten bringen auch etwas Geld nach Hause. Und für mich ist wichtig, dass ich eine richtige Stelle habe, mit Vertrag und Sozialversicherung. Jetzt kann mich niemand mehr unter Druck setzen, weil ich keinen Ausweis habe. Und es ist keine Katastrophe, wenn ich mal krank bin."
Doppelte Last
Widad Naggar hatte Glück. Doch Hunderttausende, wenn nicht Millionen Frauen im Nahen Osten und in Nordafrika haben keine Papiere und werden auch nie welche besitzen. Die ADEW kann nur punktuell Hilfe leisten. "Wir sind ja nicht die Regierung", sagt Rechtsanwalt Montasser Ibrahim.
"Wir wollen zwar Druck machen und erreichen, dass die Ämter ihre Dienstleistungen verbessern. Aber letztlich muss der Staat seiner Verantwortung nachkommen."
Fehlende persönliche Dokumente sind nur eine von vielen Herausforderungen, mit denen Frauen in der arabischen Welt zu kämpfen haben. Aber an diesem Beispiel zeigt sich besonders drastisch, dass das Versagen des Staates vor allem arme Frauen trifft. Natürlich leiden in den arabischen Diktaturen nicht nur Frauen unter schlechter Regierungsführung.
Doch die gesetzlich verankerte geschlechtsspezifische Diskriminierung macht Frauen noch verletzlicher, als sie ohnehin sind. Und dort, wo das geschriebene Gesetz Frauen und Männern gleiche Rechte zugesteht, werden den Frauen diese Rechte oft verwehrt – weil sie zu arm sind, um Schmiergelder zu bezahlen, oder weil frauenfeindlich eingestellte Richter es so wollen.
Ein Beispiel ist die jordanische Entwicklungsexpertin Muna Salameh (Name geändert), die bei der Eheschließung ihre formellen Rechte geltend machen wollte. In Jordanien ist wie in allen arabischen Ländern das Personenstandsrecht abhängig von der Religion.
"Das für Muslime geltende jordanische Eherecht gestattet Frauen, sich im Ehevertrag das Recht auf Berufstätigkeit außer Haus sowie das bedingungslose Recht auf Scheidung zu sichern", erklärt Salameh. "Wenn Frauen nicht ausdrücklich darauf bestehen, haben sie diese Rechte nicht. Mein Mann und ich hatten darüber gesprochen und die Klauseln gemeinsam in unseren Vertrag hineingeschrieben."
Doch auf dem Standesamt wollte der Beamte die Eheschließung nicht registrieren. "Erst als nach langen Debatten ein befreundeter Rechtsanwalt ihm die entsprechenden Gesetze zeigte, lenkte er ein."
Nachhaltige soziale und wirtschaftliche Entwicklung ist nur möglich, wenn Frauen und Männer gleichberechtigt partizipieren. Diese Erkenntnis ist in der arabischen Welt nicht neu. Aber die formale gesetzliche Gleichstellung allein reicht nicht, um die Lebenssituation von Frauen und Mädchen dauerhaft zu verbessern. Rechtsreformen sind nur sinnvoll, wenn die Frauen ihre Rechte auch durchsetzen können.
Kampf gegen Diskriminierung
Deshalb haben arabische Frauenrechtlerinnen in den vergangenen Jahren neue Strategien entwickelt, um auch die Rechtswirklichkeit, die konkrete Umsetzung und die allgemeine Akzeptanz von Reformen zu verbessern und dafür bessere Rahmenbedingungen zu schaffen.
Unterstützt werden sie unter anderem von der GTZ. Ein Beispiel dafür, wie nichtstaatliche arabische Frauenorganisationen für solche Reformen kämpfen, bot die Änderung des Staatsangehörigkeitsrechtes in Ägypten.
Bis 2004 hatten Kinder ausländischer Väter nicht das Recht, die Nationalität der Mutter anzunehmen, auch wenn sie Ägypterin war und die Kinder allein mit ihr in Ägypten lebten.
Hunderttausende Kinder, Jugendliche und Erwachsene lebten deshalb wie Fremde im eigenen Land. Sie konnten nicht ohne Weiteres staatliche Schulen besuchen, hatten kein Recht auf Sozialleistungen und konnten sich nicht um Stellen im öffentlichen Dienst bewerben. Für die Mütter bedeutete das endlose Odysseen durch die Behörden, die Kraft, Zeit und Geld raubten.
Faiza Tahnawi, von 2000 bis 2005 parteilose Abgeordnete im ägyptischen Parlament, beschreibt, wie sie sich erst allmählich, dann aber nachhaltig für das Thema erwärmte: "Auf das Nationalitätsproblem stieß ich eher zufällig, im Rahmen einer regionalen arabischen Konferenz über Frauenrechte. Ich war schockiert und nahm mir vor, alle meine Kraft für eine Reform des Gesetzes aufzuwenden."
Zunächst waren die Widerstände im Parlament massiv, erinnert sich Tahnawi. "Mehrere weibliche Abgeordnete und sogar Journalistinnen sagten zu mir, ich sollte mir nicht die Probleme dieser Frauen zu eigen machen. Sie hätten sich selbst dazu entschieden, einen Ausländer zu heiraten. Als ob eine Frau ihre Herkunft verrät, nur weil sie einen Nichtägypter heiratet!"
Während Faiza Tahnawi eifrig Lobbyarbeit für die Gesetzesreform machte, organisierte ein Bündnis aus Frauenrechtlerinnen und nichtstaatlichen Organisationen eine landesweite Medienkampagne.
Einige Journalistinnen waren bereit, die Kampagne in ihren Zeitungen, Radio- und Fernsehbeiträgen zu unterstützen. Parallel dazu entstand auf regionaler Ebene ein Dokumentarfilm ("My Child, The Foreigner"), der die prekäre Situation arabischer Kinder ohne Pass aufzeigte.
Höhepunkt der Kampagne war eine große Konferenz, bei der betroffene Frauen und Kinder vor laufenden Kameras von ihren Problemen sprachen.
"Wir hatten erwartet, dass die Betroffenen sich scheuen würden, öffentlich von ihrem Leid zu erzählen. Doch die Berichte waren sehr eindrucksvoll, und einige Mitarbeiter von Ministerien und Behörden waren sichtlich berührt", erinnert sich die ägyptische Journalistin Fatma Khir.
Sie glaubt, dass die persönliche, unvermittelte Konfrontation wesentlich zum Erfolg der Kampagne beigetragen hat. Noch ehe das Gesetz überhaupt in Kraft getreten war, hatten sich binnen weniger Tage allein im Großraum Kairo 6000 Menschen gemeldet, um sich einbürgern zu lassen.
Scheidungsrecht für Frauen
Ein anderes Beispiel für gesetzlich verankerte Benachteiligung der Frauen ist die Ehescheidung. Ungleichbehandlung von Frauen in den aktuellen Gesetzgebungen arabischer Länder hat nicht zwingend mit dem Islam zu tun.
Vielmehr übernahmen einzelne arabische Staaten bei ihrer Gründung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts europäische Gesetze, die dem damaligen abendländischen Zeitgeist entsprechend diskriminierend waren – manchmal mehr noch als das islamische Recht.
Die Entstehung der Nationalstaaten machte es zudem nötig, das traditionell dezentral organisierte islamische Recht zu kodifizieren. Diese nationale Vereinheitlichung sah man teils als Fortschritt, weil man mehr Rechtsverbindlichkeit und Rechtssicherheit für alle Bürger anstrebte.
Teils bedeutete das aber auch, dass für Frauen ungünstige Rechtsauffassungen generalisiert und individuelle Gestaltungsspielräume reduziert wurden. Das galt unter anderem für das Scheidungsrecht, das in seinen aktuellen Fassungen in fast allen arabischen Ländern Frauen stark benachteiligt.
Im Jahr 2000 wurde in Ägypten die so genannte Khulaa-Scheidung eingeführt. Bis dahin hatten in Ägypten nur Männer das Recht, jederzeit – ohne Angabe von Gründen und ohne richterlichen Beschluss – eine Scheidung ("talaaq") zu vollziehen.
Frauen hingegen konnten sich nur mit triftigem Grund trennen: wegen Impotenz des Mannes, massiver körperlicher Gewalt, mangelnder Versorgung oder böswilligen Verlassens. Nur wenn ein Richter diesen Mangel bestätigte, konnte die Scheidung seitens der Frau ("tatliiq") rechtskräftig werden.
Seit Einführung der Khulaa-Scheidung können sich in Ägypten auch Frauen ohne Begründung scheiden lassen. Sie müssen dafür allerdings auf einige Rechte verzichten: auf den zweiten (oft umfangreicheren) Teil ihrer so genannten Morgengabe ("mahr"/"mahr mu'akhar") sowie persönlichen Unterhalt.
Der Unterhalt für die Kinder, das Sorgerecht, das Recht auf die eheliche Wohnung werden von der Khulaa-Scheidung nicht berührt. Obwohl eine "Khulaa"-Scheidung für die Frau also materiellen Verzicht bedeuten kann, beantragten schon am ersten Tag nach der Gesetzesänderung allein in Kairo mehrere hundert Frauen die Scheidung nach dem neuen Gesetz.
Partizipatives Monitoring
Doch schon bald zeichneten sich Probleme ab. Viele Richter kannten das neue Gesetz nicht oder gaben vor, es nicht zu kennen. Zugleich glaubten viele Frauen irrtümlich, im Fall einer "Khulaa"-Scheidung auf das Sorgerecht für die Kinder, die eheliche Wohnung und sämtliche finanzielle Rechte verzichten zu müssen.
Die Umsetzung blieb weit hinter den Erwartungen zurück. Die Scheidungsverfahren, die nach dem neuen Gesetz binnen sechs Monaten abgeschlossen sein sollten, zogen sich bis zu zwei Jahre hin.
2004 lancierte die Frauenorganisation ADEW ein in der arabischen Welt unbekanntes Projekt. Im Rahmen eines "partizipativen Monitorings" wurden ägyptenweit 1200 Prozessverläufe an Gerichten analysiert, um herauszufinden, mit welchen Einstellungen Klientinnen, Richter, Anwältinnen und Beraterinnen an das neue Gesetz herangingen und wo Defizite lagen.
Die Akteure wurden aber nicht nur beobachtet und bewertet, sondern über Fortbildungs- und Supervisionsangebote auch in die Studie einbezogen. Das verbesserte die Akzeptanz und die Qualität des Monitorings. Zudem war es so möglich, Zwischenergebnisse der Studie regelmäßig zu überprüfen und zu diskutieren.
Das partizipative Monitoring setzte Maßstäbe für eine verbesserte Governance im Justizwesen und hatte zudem praktische Auswirkungen: Nachdem sich herausgestellt hatte, dass die meisten Männer ihren geschiedenen oder verstoßenen Frauen keinen Unterhalt zahlten, wurde ein Sozialfonds für mittellose Geschiedene und ihre Kinder nach tunesischem Vorbild eingerichtet.
Verwaltungstechnisch ist der Fonds bei der Nasser-Entwicklungsbank angesiedelt, die sich aus Zakat-Zahlungen finanziert. Zakat ist eine Spende nach islamischem Recht und eine der fünf Säulen des Islams. Der Sozialfonds soll durch eine Sondergebühr auf alle standesamtlichen Urkunden finanziert werden.
Ein Ausblick
In den meisten arabischen Ländern haben säkulare Regime es jahrzehntelang nicht geschafft, die Probleme der Menschen zu lösen. Trotz immenser Rohstoffreichtümer und hoher Investitionen in die Bildung ist es nicht gelungen, wissenschaftlich und technologisch aufzuholen – im Gegenteil. Stattdessen breiten sich Korruption, Vetternwirtschaft und Armut aus.
Die Enttäuschung über das Versagen der säkularen Nationalismen hat in der arabischen Welt zu einer Rückbesinnung auf den Islam und die islamischen Werte geführt.
Verstärkt wurde dieser Trend dadurch, dass Saudi-Arabien mit Hilfe seiner Öleinnahmen die kulturelle Islamisierung aktiv unterstützte. Vor allem bei der mittleren und jungen Generation ist der Islam heute ein bestimmender Identitätsfaktor, der bei Debatten über Entwicklung und Governance eine große Rolle spielt.
Angesichts schwacher staatlicher Institutionen tendieren viele Frauen dazu, gewohnheitsrechtliche oder religiöse Rechtsinstitutionen aufzusuchen. Diese sind zwar oft extrem patriarchal geprägt, aber bezahlbar und vertraut. Zudem sind sie meist stärker auf Konfliktschlichtung ausgerichtet. Diese Institutionen muss die Entwicklungspolitik berücksichtigen.
Gute Regierungsführung ist für die arabischen Staaten die derzeit größte entwicklungspolitische Herausforderung. Wichtige Indikatoren für Verbesserungen sind die Partizipation von Frauen am kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Leben und die Chancen von Frauen, ihre Menschenrechte durchzusetzen.
Formale Rechtsreformen und kohärente Gesetze bilden die Grundlage, doch damit Frauen ihre Rechte auch durchsetzen können, muss das Wissen darüber stärker verbreitet und die kulturelle Akzeptanz von Menschen- und Frauenrechten gestärkt werden.
Richter, Rechtsanwälte und Justizpersonal (beiderlei Geschlechts) sollten permanent fortgebildet werden. Partizipatives Monitoring und Lobbyarbeit mit islamischen Strukturen sind vielversprechende Instrumente, um die Umsetzung frauenfreundlicher Rechtsreformen zu fördern.
Nötige Gleichberechtigung
Schon im 19. Jahrhundert war die so genannte "Frauenfrage" in arabischen Modernisierungsdebatten zentral. Säkulare Denker, aber auch religiös geprägte Intellektuelle wie der Ägypter Muhammad Abdu waren überzeugt, dass die arabische Welt gegenüber dem Westen nur aufholen konnte, wenn die arabischen Mädchen Zugang zu formaler Bildung bekamen und die Frauen nicht länger unter den Schleier und ins Haus gezwungen wurden.
Im Zuge der Entkolonialisierung galten Bildung und Berufstätigkeit von Frauen in den meisten arabischen Ländern als ein Indiz für Fortschritt. Dennoch klafft in den meisten arabischen Ländern heute in Bezug auf Bildung und Menschenrechte ein "gender gap", vor allem bei der Grundbildung. Männer und Jungen können häufiger lesen und schreiben als Frauen und Mädchen, sie haben mehr formale Rechte und sie können diese Rechte in der Regel auch besser durchsetzen.
Die vier arabischen Berichte zur menschlichen Entwicklung, die das UNDP von 2002 bis 2005 veröffentlichte, sehen in der Gleichberechtigung der Geschlechter eine elementare Voraussetzung für Entwicklung und gute Regierungsführung.
Die Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ) hielt 2005 in einem Diskussionspapier zur Governance in arabischen Staaten fest, dass Frauenrechtsorganisationen in den arabischen Staaten als wichtige Reformkräfte anzusehen seien.
Martina Sabra
© Zeitschrift für Entwicklung & Zusammenarbeit 2009
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