Wohltätigkeitswelle unter Ägyptens Jugend

Spielzeug für Waisenkinder, Nachhilfe für geistig Behinderte: Ehrenamtlicher Einsatz für schwächer Gestellte gerät unter Ägyptens Jugendlichen zur Massenbewegung. Barbara Ibrahim erklärt im Interview mit Mona Sarkis, was dahinter steckt.

Spielzeug für Waisenkinder, Nachhilfe für geistig Behinderte: Ehrenamtlicher Einsatz für schwächer Gestellte gerät unter Ägyptens Jugendlichen zur Massenbewegung. Barbara Ibrahim, im Interview mit Mona Sarkis, was dahinter steckt.

Barbara Ibrahim; Foto: Mona Sarkis
Barbara Ibrahim ist Direktorin des Gerhart Center für Philanthropie und Ziviles Engagement sowie Mitbegründerin des Programms zur Stärkung des zivilen Engagements an der Cairo University.

​​Frau Ibrahim, seit geraumer Zeit hört man im Westen viel von ägyptischen Bloggern und Internetvernetzungen, etwa in Form von massenhaften Mobilmachungen zum Generalstreik im April via Facebook. Ist Ägyptens Gesellschaft tatsächlich protestfreudiger als andere arabische Staaten?

Barbara Ibrahim: Ich weiß nicht, ob es per capita mehr ägyptische als beispielsweise syrische Blogger gibt, oder ob erstere nur sichtbarer sind, weil die Kontrolle des ägyptischen im Vergleich zum syrischen Staat vorübergehend nachließ; jüngst hat sich das ja geändert, und der Geheimdienst greift wieder härter durch.

In jedem Fall ist es in Ägypten eine Erscheinung, die erst vor wenigen Jahren einsetzte. Ein auslösendes Moment waren sicherlich die Proteste gegen den Irak-Krieg 2003. Ebenso der wachsende Volkszorn über die Reaktion der ägyptischen Führung auf die zweite Intifada. Man hatte sich genuine Solidarität mit den Palästinensern erhofft.

Eine politische Regung kam auf, die sich in Ägypten vor allem in "Kefaya" ("Genug") manifestierte, einer inhaltlich vielschichtigen Protestbewegung, die sich zunächst auf die israelische Besatzungspolitik in den palästinensischen Gebieten konzentrierte, dann aber auch politische Reformen in Ägypten forderte und unter anderem mit den Muslimbrüdern für freie Wahlen eintritt.

Heute scheinen es vor allem die Wohltätigkeitsorganisationen zu sein, die eine Massenbewegung formieren.

Alaa Abdel Fattah; Foto: AP
Blogger haben in den letzten Jahren für viel Wirbel im öffentlichen Diskurs gesorgt - so auch das "Blogger-Paar" Alaa und Manal, hier abgebildet auf einem Poster in ihrer Wohnung.

​​Ibrahim: Sie sind zweifelsohne die augenscheinlichste Manifestation der Frustration und des Drängens der ägyptischen Jugend nach Veränderung. Ägypten gehört zu den zentralisierten Staaten, die ursprünglich einen sozialen Pakt mit seinen Bürgern geschlossen bzw. ihnen diesen oktroyiert haben: "Halt dich aus allem raus und wir beschützen dich". Heute aber fühlt sich niemand mehr beschützt. Die Preise steigen, die Menschen sind ohne Job und – was sehr entscheidend ist – ohne Stolz, da sie sich von ihrer Führung an den Westen verkauft fühlen. Kurz, der alte soziale Pakt ist ungültig. Zugleich weiß keiner, wie es weitergeht.

Vor diesem Hintergrund beginnt die Jugend, sich zu organisieren. Allerdings trauen sich die wenigsten an politische Aktivitäten heran, weil ihnen dies die Diktatur abgewöhnt hat. Was das angeht, sind hauptsächlich die Muslimbrüder ernst zu nehmen. Der Rest versucht sich vor allem in wohltätigem Engagement. Die Organisation "Ar-Resala" ("Die Botschaft") etwa verzeichnet 70.000 ehrenamtliche Mitglieder, von denen rund zehn Prozent sehr aktiv sind. Sie sammeln Kleider, Medizin, Essen bei den Reichen und bringen es zu den Armen. Sie wollen Gutes tun, weil sie darin eine direkte Verbindung zu den Geboten des Islam sehen. Sie sagen: "Die ägyptische Gesellschaft ist schwach, weil sich unsere Eltern von der Religion weg bewegt haben. Wir bewegen uns zurück".

Allerdings strapazieren sie nur beschränkt ein religiöses Vokabular, das für sie in die Moschee gehört. Im Alltag reden sie vom "Dienst am Anderen". Nur ein verschwindend kleiner Bruchteil der Muslime pflegt ein Religionsverständnis, das Extremismus rechtfertigt. Das aber sieht der Westen kaum.

Was exakt will die Jugend über die Wohltätigkeitsverbände verändern?

Anfang 2005 wurde der Oppositionspolitiker Ayman Noor verhaftet und zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Viele Ägypter hielten die Anklage wegen Urkundenfälschung für eine Farce; Foto: AP
In Ägypten brodelt es: Immer öfter legt sich die Bevölkerung offen mit der Staatsmacht an, wie hier diese Frau bei einem Protest in Kairo.

​​Ibrahim: Sie wollen die verkrusteten Strukturen aufbrechen, die zu ihrem sozialen Ausschluss führen. Das beginnt beim Arbeitsmarkt, denn gute Jobs erhält nur, wer Beziehungen hat. Und es geht weiter bei der Heirat, denn ohne Job kann keiner eine eigene Familie gründen und eine eigene Wohnung beziehen. Für viele übersteigt die erforderliche Mitgift das Familieneinkommen um das Elffache. Junge Menschen sind daher oft sehr lange verlobt. Diese späten Ehen verursachen eine seelische Belastung. Oft arbeiten die Väter jahrelang im Golf, nur um einen ihrer Söhne zu verheiraten. Aber auch für die Mädchen ist die Mitgift zunehmend ein Grund zu arbeiten. Das geschieht nicht immer aus Liebe, sondern weil sie ihr Elternhaus verlassen wollen.

Ihre Situation hat sich etwas verbessert, da sie jetzt ein Mitspracherecht bei Eheschließungen haben. Aber auch Angehörige der Mittelschicht können ihre Partner kaum allein aussuchen. Also sind Mädchen vom sozialen Ausschluss noch betroffener. Diese Initiativen, in denen sie sich ohne Anleitung von oben bewegen, sind für sie meist der einzige Weg, die durch den Staat und ihre Eltern vorgeschriebenen Bahnen zu verlassen.

Greifen die Ausbruchsversuche bereits? Kann man von ersten Konsequenzen im Alltag sprechen?

Ibrahim: Momentan hat die Jungend so die Möglichkeit, das andere Geschlecht in einem gesellschaftlich tolerierten Rahmen kennen zu lernen, auch wenn dies kaum einer zugibt. Zudem eignen sie sich so soft skills an – eine eigene Tagesordnung zu erstellen und zu befolgen will in einer Diktatur erst gelernt sein. Für Frauen ist es zudem ein Weg, das Haus mit dem Segen der Familie zu verlassen.

Wie sich all das auf das Selbstbewusstsein und den Tatendrang der Jugend auswirkt, ist momentan schwer zu sagen. Nur soviel: Das Modell ist derart erfolgreich, dass es sich mittlerweile in Franchise-ähnlicher Manier in ganz Ägypten ausbreitet.

Interview: Mona Sarkis

© Qantara 2008

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