Übersehen wir hier etwas?
Gegenwärtig ist nicht der beste Zeitpunkt, um über die Bürgergesellschaft zu sprechen und deren Konzepte auf die Verträglichkeit mit dem Islam zu untersuchen. So wie wir die Bürgergesellschaft verstehen, geht es schließlich um die Gestaltung unserer Gesellschaft und die Schaffung der Voraussetzungen für ein gerechtes und gutes Leben für alle.
In der Türkei wirft Präsident Recep Tayyip Erdoğan gerade die Hauptmerkmale eines demokratischen Staates über Bord. Überall wittert er Verräter. Sogar im Verfassungsgericht und in der Zentralbank. Und er verdächtigt jeden, der sich ihm gegenüber nicht hinreichend dankbar zeigt. Er lehnt es ab, die Verfassung zu achten, die den Präsidenten zur Überparteilichkeit verpflichtet. Er rühmt sich sogar seiner De-facto-Macht.
Die Nachbarländer Libyen, Irak, Syrien und Jemen werden von inneren Unruhen und Bürgerkriegen heimgesucht. In Indonesien und Tunesien ist das letzte Wort dazu längst noch nicht gesprochen. Eines jedoch prägt unser globales Bewusstsein besonders stark: Die Barbarei des IS – des sogenannten "Islamischen Staates" – im Nahen Osten und darüber hinaus. Ist es daher töricht, nach Hinweisen und Konzepten einer muslimischen Bürgergesellschaft zu suchen? Die Meinungen darüber gehen auseinander.
Bürgergesellschaft – eine Definition
Der Begriff Bürgergesellschaft bezeichnet unser Wissen über die aktive Teilnahme ihrer Mitglieder zur Gestaltung einer demokratischen Gesellschaftsform. Städte zwingen Menschen dazu, auf engem Raum zusammenzuleben und ihre Schicksale miteinander zu verflechten. Ein Dilemma, aus dem die Bürgergesellschaft anfangs hervorging. Die türkischen und arabischen Benennungen für "Zivilisation" und "bürgerlich" lauten medeniyet bzw. medeni. Sie leiten sich ab von der Stadt Medina. Medina hatte eine eigene Gemeindeordnung. Medina ist die Stadt auf dem Hügel für fromme Muslime. In diesem etymologischen Sinn stellt sich das gerechte und gute Leben nicht automatisch ein. Vielmehr muss es gemeinsam und bewusst entwickelt werden.
Die Rechte von Atheisten zu verteidigen, ist nicht nur die Pflicht jedes Demokraten, sondern auch jedes Muslims. Ein ständig wiederkehrendes und hochproblematisches Thema ist die Anwendung von Gewalt und Zwang im Namen des Islam, was mit der modernen Bürgergesellschaft unvereinbar ist. Wenn sich die Führer des IS als Muslime bezeichnen, was genau bedeutet "Muslim" dann? Ganz zu schweigen von "muslimischer Bürgergesellschaft".
Muslim zu sein, bedeute in Ländern nicht viel, die Atheisten nicht dulden, meint der anerkannte türkische Islamwissenschaftler und Theologe Abdülaziz Bayındır. Die Entscheidung für den muslimischen Glauben müsse frei und ohne Angst vor möglichen Konsequenzen getroffen werden.
Und İhsan Eliaçık, ein weiterer unerschrockener türkischer Autor und Theologe, sagte, er sei zwar als türkischer Sunnit geboren, aber er sei ebenso ein Alevit, ein Kurde und ein Christ, solange die Türkei diese Identitäten weiter stigmatisiere und diskriminiere. Eliaçık stellt jede Auslegung des Islam infrage, die eine autoritäre Herrschaft legitimiert. Der verbreitete Gebetsspruch "Allahu Akbar" oder "Gott ist groß" bedeute, allein Gott sei groß. Niemand anders habe ein verbrieftes Recht auf Gehorsam, so Eliaçık. Eine Person müsse sich Respekt erst verdienen, nicht einfordern.
Die zentrale Stimmung des Islam ist libertär
Respekt stehe stets unter einem Vorbehalt. Keine irdische Autorität genieße ein dauerhaftes Recht zu regieren. Die zentrale Stimmung des Islam sei libertär. Der US-amerikanische Sozialwissenschaftler Mücahit Bilici besteht darauf, dass nicht nur jeder Demokrat verpflichtet sei, die Rechte von Atheisten zu verteidigen, sondern auch jeder Muslim.
Doch wie lässt sich das mit der aktuellen globalen Lage vereinbaren? In der Türkei trat die AKP einst als muslimisches Pendant zu den Christdemokraten Europas an. Sie wollte zeigen, dass ihre Werte und Überzeugungen mit hohen Ansprüchen an Bürgergesellschaft und Staatsführung einhergehen.
Ihre Erfolge waren zunächst beeindruckend: Die Macht des Militärs wurde beschnitten, einige zentrale Forderungen der Kurden wurden erfüllt und die Sozialpolitik wurde erheblich ausgebaut. Doch heute folgt die Partei loyal ihrem zunehmend autoritären Übervater und wendet sich ab von ihrer eigentlichen Mission als konservative Partei – das heißt als muslimisch-demokratische Partei. Und die Welt fragt sich, wie sie damit umgehen soll.
Ganz allgemein ermutigt der Koran Muslime dazu, aufgeschlossen zu sein und nach höherer Erkenntnis und Wissen zu streben, "auch wenn sie dazu bis nach China reisen müssten". Der Koran fordert Muslime auf, Pluralität als Geschenk Gottes zu betrachten und als Gelegenheit, voneinander zu lernen.
In der muslimischen Tradition ist Kollegialität sehr wichtig: Eine kollegiale Beratung am runden Tisch, die sogenannte meşveret, ist für viele Muslime ein besserer Weg zum gesellschaftlichen Miteinander als die Debatte zwischen widerstreitenden Parteien, die sogenannte münazara.
Friedenswunsch als religiöse Pflicht
Wie die Anhänger vieler anderer Glaubensrichtungen sind auch Muslime aufgefordert, ihre Mitmenschen zu begrüßen, indem sie ihnen Frieden wünschen ("Friede sei mit euch") und zusichern, selbst in friedlicher Absicht zu kommen. Für Muslime gilt allerdings eine weitere Pflicht: Wer wissen will, ob er sein Bekenntnis, niemandem zu schaden, eingelöst hat, muss seinesgleichen fragen. Mit anderen Worten: Muslime glauben daran, dass Gott ihnen Sünden vergeben kann, die sie gegenüber Gott begehen, dass Sünden gegenüber Menschen aber nur von den Geschädigten selbst vergeben werden können.
Diese Gebräuche erinnern daran, was die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin und Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom über die Selbstorganisation von Menschen zur Schaffung und Fortschreibung von Normen ohne diktatorischen Zwang sagt. Ein ähnliches Echo findet sich in den Sozialwissenschaften und hier namentlich seitens der israelischen Historikerin Amy Singer in ihrem Werk Charity in Islamic Societies (Wohltätigkeit in islamischen Gesellschaften; 2008).
Hier werden verschiedene Gebräuche beschrieben, die zum Geben ermutigen, ohne eine unmittelbare Gegenleistung zu erwarten. Die muslimische Welt zeichnet seit jeher ein gut ausgebautes System aus Treuhandanstalten, Stiftungen und anonymen Zuwendungen aus. Der Islam fordert sozialfreundliches Verhalten ein, wie beispielsweise die Zakāt als jährliche Abgabe von 2,5 Prozent des eigenen Vermögens für soziale Zwecke.
In jüngster Zeit haben einige Theologen in der Türkei aus den Regeln und Gebräuchen des Islam interessante Schlüsse gezogen. Der islamische Theologe und ehemalige Präsident des türkischen Amtes für religiöse Angelegenheiten Diyanet, Ali Bardakoğlu, sagte, eine islamische Gesellschaft sollte ihre ethischen Standards daran messen lassen, ob eine Frau alleine vom Jemen nach Syrien reisen könne, ohne belästigt zu werden. Der Islam habe ein Klima der Ethik und Zivilisiertheit zu fördern, so Bardakoğlu.
Progressive Sozialpolitik und Islam gehen für manche nicht zusammen. Und doch gibt es Parallelen. Islamische Kulturen wissen tatsächlich das ein oder andere über die Förderung und Pflege von Bürgergesellschaften.
Ehrliches Interesse füreinander
Doch was bedeutet dies alles aus praktischer Sicht? Ganz gewiss bedeutet es nicht, dass eine Art muslimisches Utopia bevorsteht. Die Türkei und die übrige muslimische Welt könnten kaum weiter von den genannten Wunschvorstellungen entfernt sein. Wobei es allerdings den Rahmen dieser Betrachtung sprengen würde, die Ursachen für dieses Missverhältnis zu untersuchen.
Dennoch sollten uns die zitierten Stimmen und Ideen aufrütteln, da sie sich so deutlich von dem unterscheiden, was wir tagtäglich in den Nachrichten sehen und hören. Was wir vor allem einander schulden, ist ehrliches Interesse.
Und wenn das einzige, was sich der Westen von der muslimischen Welt wünscht, die Verurteilung und Beseitigung des "Islamischen Staates" ist, sollten wir uns nicht wundern, wenn viele Muslime diesen Wunsch als zu durchschaubar und fadenscheinig betrachten.
Wir brauchen einen Diskurs, der tiefer geht. Die muslimische und die westliche Welt sind im Guten wie im Bösen miteinander verflochten. Wenn wir auf Dauer echtes Interesse füreinander zeigen und in guter Absicht handeln, werden wir mehr geistige Parallelen entdecken können, als es auf den ersten Blick scheint.
Hakan Altinay
© OpenDemocracy 2016
Hakan Altinay ist Präsident der Global Civics Academy, eine Einrichtung, die Online-Kurse zu Themen der globalen Zivilgesellschaften anbietet. Er lebt und arbeitet in Istanbul.
Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers