Eine ungewisse Zukunft

Zwei Männer sitzen mit dem Rücken zur Kamera und blicken auf ein Gelände mit behelfsmäßigen Unterkünften aus Holz und Wellblech.
Die Region Ouaddaï im Osten des Tschad verändert sich durch den Krieg im benachbarten Sudan. Das Flüchtlingslager Farchana im August 2024. (Foto: Martin Bertrand / Hans Lucas)

Mehr als eine halbe Million Menschen sind vor dem Krieg im Sudan über die Grenze ins Nachbarland Tschad geflohen. Die humanitäre Hilfe steht angesichts überfüllter Camps und begrenzter Mittel vor großen Herausforderungen.

Von Martin Bertrand

„Das ist das Lager Adré, es war weltweit in den Medien”, sagt Sébastien Arrivé und blickt auf ein Areal mit behelfsmäßigen Unterkünften aus Ästen und abgenutzten Planen, die sich bis zum Horizont erstreckt. Arrivé leitet die humanitären Maßnahmen im Lager für Atlas Logistique, die Logistikabteilung der NRO Handicap International (HI). Mehr als 250.000 Menschen haben sich an diesem Ort niedergelassen, der nach internationalem Recht kein Lager ist, sondern lediglich eine Durchgangsstation. Diese Unterscheidung bedeutet, dass hier keine langfristigen Investitionen getätigt werden, wie dies in den anderen Lagern der Fall ist.   

Adré, eine Stadt in der Region Ouaddaï, liegt in unmittelbarer Nähe zur sudanesischen Grenze. Heute ist sie Mittelpunkt einer Krise, die ihre eigene Größe weit übersteigt. Aufgrund der fehlenden Verkehrsinfrastruktur ist der äußerste Osten des Tschad vom Rest des Landes, insbesondere von der Hauptstadt N'Djaména im Westen, isoliert. Einzig lange, holprige, ockerfarbene Feldwege führen durch unberührte, vielfältige Landschaften in die Stadt.

Die Region hat sich durch den Bürgerkrieg im benachbarten Sudan verändert, den Ende April 2023 zwei rivalisierte bewaffneten Gruppen vom Zaun brachen. Auf der einen Seite stehen die Sudanesischen Streitkräfte (SAF) unter der Führung von Abdel Fattah al-Burhan, der das Land seit dem Staatsstreich von 2021 regiert. Auf der anderen Seite stehen die 2013 gegründeten Rapid Support Forces (RSF), deren Anführer Mohamed Hamdan Daglo die Macht anstrebt. 

Die Gewalt wütete in der Hauptstadt Khartum und in der Region Darfur besonders stark, insgesamt wurden über 11,5 Millionen Menschen inklusive fünf Millionen Kinder vertrieben. Sie flohen entweder in andere Regionen innerhalb des Landes oder in die Nachbarländer. Die Grenze zum Tschad überquerten circa 640.000 Sudanes:innen. Dort versuchen Akteure der humanitären Hilfe angesichts der enormen Notlage, Gelder zu mobilisieren. Der Tschad ist laut dem Human Development Index der Vereinten Nationen eines der wenigsten entwickelten Länder weltweit.  

„Ich glaube nicht, dass die beteiligten Akteure diesen Konflikt kommen sahen“, sagt Xavier Creach, stellvertretender Regionaldirektor des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR). Der Krieg sei durch ein „außergewöhnliches Ausmaß an Menschenrechtsverletzungen“ gekennzeichnet, fährt er fort. „Nach 29 Jahren beim UNHCR kann ich mich nicht an diese menschlichen Tragödien gewöhnen, an die Frauen, die sahen, wie ihre Männer und Kinder bei lebendigem Leib in ihren Häusern verbrannten, an die Vergewaltigungen, an die Angriffe auf Zivilist:innen, die versuchten zu fliehen.“   

Gefährlich nah an der Grenze

Das Lager in Adré ist „eine überfüllte Barackensiedlung“, sagt Eric Ndiramiye, Leiter der Rehabilitationsprogramme von HI in der Region. „Die Geflüchteten sollen theoretisch nur einen Monat hierbleiben, um die mit ihrer Ankunft verbundenen Formalitäten zu erledigen, und dann in ein richtiges Lager gehen. Hier gibt es praktisch keine langfristige Unterstützung.“ 

Alida Mahoro, technische Leiterin der HI-Programme für psychische Gesundheit, erklärt, dass viele der Geflüchteten schon seit über einem Jahr hier leben: „Die meisten von ihnen wehren sich gegen den Gedanken, in andere Lager umzuziehen. Diese sind vielleicht besser organisiert und ausgestattet, doch es herrscht das Gefühl, dass diese Lager völlig isoliert sind. Das Leben hier ist lebendiger, die Bewohner:innen leben in der Nähe der Stadt. So können sie arbeiten, kleine Unternehmen gründen und ein wenig Geld verdienen.“  

Eine große Gruppe von Menschen stehen im Kreis vor dem Tor zu einem Camp.
Offiziell ist das Lager Adré nur eine Durchgangsstation, aber mehr als 250.000 Menschen leben aktuell dort. Neuankömmlinge stehen vor dem UNHCR-Registrierungszelt, nachdem sie in der Nacht die Grenze zum Tschad überquert haben. (Foto: Martin Bertrand / Hans Lucas)

Die Grenze zwischen dem informellen Lager und der Stadt Adré verblasst allmählich, am Eingang des Camps herrscht eine regelrechte Dorfatmosphäre. In den frühen Morgenstunden entsteht ein lauter Markt, auf dem Männer mit Pferden oder Mopeds Waren transportieren und Frauen kleine Stände aufbauen, um Lebensmittel zu verkaufen. Gleich nebenan warten etwa hundert Menschen, hauptsächlich Frauen, Kinder und einige ältere Menschen. Es herrscht Stille. Geduldig stehen sie im Regen vor den Registrierungszelten des UNHCR. Sie sind in der Nacht aus dem Sudan eingetroffen. 

Ein Hauptproblem des Standorts Adré ist, so Creach, dass er zu nahe am Sudan liegt: „Zu ihrer eigenen Sicherheit müssen die Geflüchteten unbedingt von der Grenze ferngehalten werden. Wenn man sich nur ein paar Kilometer von der Grenze entfernt aufhält, ist das Risiko von Angriffen aus dem Herkunftsland extrem hoch“. Im vergangenen Jahr schlug eine von einer sudanesischen Miliz abgefeuerte Granate auf dem Gelände ein und verletzte eine Person. „Eine große Anzahl von Geflüchteten in den Grenzgebieten bedeutet das Risiko eines Übergreifens des Konflikts. Es besteht auch die Möglichkeit, dass sich bewaffnete Kämpfer unter die Flüchtlinge mischen. Aus diesem Grund ist es unser Ziel, die Vertriebenen idealerweise 50 Kilometer von der Grenze entfernt unterzubringen“, so Creach.   

Sie fliehen vor den Gräueltaten in Darfur

Weiter südlich, eine zweistündige Fahrt entfernt, kommt das Lager Aboutengue in Sicht. Hier gibt es deutlich mehr humanitäre Organisationen als in Adré, die wichtige Dienstleistungen wie Gesundheitsversorgung und Bildung anbieten. Jede Familie bewohnt ein kleines Stück Land, sie sind in einem Gittermuster angelegt und durch im Boden verankerte Äste abgeteilt. Zu jeder Parzelle gehört eine einfache, mit einer Plane abgedeckte Holzhütte, einige Familien haben daneben einen kleineren Unterstand für den Empfang von Besucher:innen errichtet. Einige nutzen ihr Land für den Anbau von Sorghum, dessen leuchtend grüne Blätter sich von der tristen Einfarbigkeit des Lagers abheben.

Eine Frau sitzt mit ausgestrecktem Fuß auf einer Liege. Zwei Männer legen ihr einen Verband an.
Eine Frau wird im Rehabilitationszentrum von HI im Lager Aboutengue behandelt. Die Nachfrage nach medizinischer Versorgung ist hoch, während fehlende Investitionen es den NRO unmöglich machen, wichtige Medikamente auf Vorrat zu lagern. (Foto: Martin Bertrand / Hans Lucas)

Die im Juni 2023 eilig errichtete Siedlung beherbergt heute 53.000 Geflüchtete und ist in nummerierte Bezirke unterteilt: Block 1, Block 2, Block 3, und so weiter. Auffallend groß ist die Anzahl von Kindern, die hier unter den Augen ihrer Mütter auf den Wegen spielen. In der mobilen Krankenstation von Handicap International versuchen Helfer:innen, so viele Patient:innen wie möglich zu versorgen. Und die Not ist groß. Etwa vierzig Menschen warten darauf, Physiotherapie für Langzeitfolgen von Verletzungen zu erhalten, unter denen sie noch Monate nach ihrer Ankunft leiden. Die Mehrheit der Camp-Bewohner:innen sind Frauen und Kinder, doch auch viele Männer kommen für medizinische Behandlung.    

Einer von ihnen, Moussa, ein 40-jähriger Vater von zwei Kindern, stammt aus der sudanesischen Stadt El-Geneina, der Hauptstadt von West-Darfur. Er kam im Juni 2023 in den Tschad, nachdem er anderthalb Monate im Zentrum des Konflikts ausgeharrt hatte. „Als der Krieg begann, fielen überall Sprengsätze. Meine Familie und ich zogen an einen Ort, den die Gewalt noch nicht erreicht hatte. Ich kümmerte mich um meine Kinder und die Älteren und pendelte weiterhin zwischen der Stadt und unserem alten Haus hin und her. Bis zu dem Tag, an dem ich verwundet wurde.“ 

An diesem Tag wurde er von fünf Soldaten angegriffen und in den linken Arm geschossen. Nachdem seine Angreifer verschwunden waren, legte sich Moussa auf den Boden und beschmierte seinen Körper mit Blut aus seiner Wunde, um so seinen Tod vorzutäuschen. „Andere Kämpfer gingen an mir vorbei und traten auf mich ein. Ich bewegte mich nicht, und da sie mich für tot hielten, gingen sie schließlich weiter. Ich lag dort bis zum Einbruch der Nacht.“ 

Als er nach Hause kam, improvisierte seine Mutter einen Verband aus Taschentüchern. Da entschied er, es sei an der Zeit, sein Land zu verlassen. Er, seine Mutter und seine beiden Söhne schlossen sich anderen an, die sich auf den Weg zur Grenze machten. Doch als seine Verletzungen das Gehen erschwerten, musste die Gruppe ohne ihn weiterziehen.  

Erst am nächsten Tag, bei Sonnenaufgang, wurde er von einem Fahrzeug von Ärzte ohne Grenzen, das die Gegend durchkämmte, aufgegriffen. Ein Arzt behandelte ihn notfallmäßig, und zwei Tage später wurde er in das Krankenhaus von Adré gebracht, wo er wieder mit seiner Familie vereint wurde. „Gott sei Dank sind meine Kinder und Eltern in Sicherheit, aber ich habe viele Menschen verloren, die mir nahestehen.“ 

Ein System unter Druck

Um die fehlende Transportinfrastruktur in der Region zu kompensieren, wurde die Flotte des Humanitären Flugdienstes der Vereinten Nationen (UNHAS) in den Tschad entsandt. Sie ist für die humanitäre Hilfe vor Ort unverzichtbar. Der Flughafen von Adré wurde zu Beginn der Krise in aller Eile von Atlas Logistique wiederaufgebaut und verfügt nun über eine eigene Start- und Landebahn, so dass die Stadt schnell zur Basis für die in der Region tätigen NRO wurde.

Zwei Männer beugen sich in einem Erdloch über Ziegelsteine, die sie kreisförmig aufschichten.
Bau einer Latrine für die Bewohner:innen des Lagers Aboutengue, in dem derzeit 53.000 Flüchtlinge leben. (Foto: Martin Bertrand / Hans Lucas)

„Unser Hauptziel ist es derzeit, Mittel für die Klimatisierung von Lagerräumen aufzubringen“, sagt Arrivé von Atlas Logistique. „Wir müssen Medikamente klimatisiert transportieren und lagern. Um eine exakte Temperaturüberwachung zu ermöglichen, wäre ein Solarenergiesystem mit einem Notstromgenerator notwendig“. Eine solche Anlage erfordert große Investitionen. „Wir können momentan keine Medikamente vorrätig lagern, was unsere Partner jedoch am dringendsten fordern“, sagt Arrivé. In Adré grassiert derzeit eine Hepatitis-E-Epidemie und es wurden Fälle von Meningitis, Gelbfieber, Dengue-Fieber und Verdachtsfälle von Lepra gemeldet. „Wir sind sehr besorgt wegen Mpox“, sagt Arrivé, „aber bisher gab es keine Fälle.“   

Die humanitäre Hilfe im Tschad kämpft mit chronischer Unterfinanzierung. „Ich denke, ich kann für alle humanitären Akteure sprechen, wenn ich sage, dass die Herausforderung enorm ist“, sagt Creach, „denn wir befinden uns in einer finanziellen Situation, in der unsere Prioritäten ständig nach unten korrigiert werden. Wir brauchen 630 Millionen Dollar für den gesamten Tschad. Wir haben bisher nur ein Viertel erhalten. Wir tun also nur ein Viertel von dem, was wir tun sollten, drei Viertel der Bedürfnisse der Bevölkerung werden nicht befriedigt.“  

Bis zu dauerhaften Lösungen, bis zu einem neuen Leben unter menschenwürdigen Bedingungen für die 640.000 Geflüchteten im Tschad, ist es noch ein langer Weg. „Die Bevölkerung in den Lagern ist extrem jung. Die Menschen kommen aus den städtischen Zentren von Darfur“, sagt Creach. „Sie wollen keine 20 Jahre hierbleiben.“ 

„Ich denke, es ist unsere Verantwortung, diesen jungen Menschen vor Ort Alternativen anzubieten. Es gibt mindestens zwei ‚schlechte‘ Optionen“, so Creach weiter. „Die erste ist die Rekrutierung durch eine bewaffnete Gruppe, und die zweite ist, dass sie sich gezwungen sehen, ihr Leben bei der Reise durch die Sahara oder das Mittelmeer zu riskieren. Wir haben die Pflicht, diesen jungen Menschen Perspektiven und Chancen für die Zukunft zu bieten.“ 

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