Ferne Erinnerung an die Schule
Die beiden Freunde Muhammad und Abed streifen durch ihre alte Schule in Khan Yunis im südlichen Gazastreifen - oder besser gesagt, dem was davon übriggeblieben ist. Der Schulhof ist übersäht mit Gebäudetrümmern.
Die Fensterseite zu ihrem Klassenzimmer ist durch die Druckwelle einer Explosion weggebrochen und gibt den Blick auf das restliche zerstörte Gebäude frei. Die beiden heben alte Schulmaterialien aus dem Schutt. Die Bilder und Szenen stammen von der Nachrichtenagentur Reuters.
"Ich war der Klassenbeste. Das war unser Klassenzimmer. Schaut, es ist total zerstört", sagt der zehnjährige Muhammad El-Fajem und schlägt vor, dass man den Unterricht in Zelten weiterführen könnte, die man vor dem Gebäude aufstellen könnte.
So gerne würde er endlich mit der Schule weitermachen. Aber es wird nie wieder wie zuvor. "Ich habe Freunde, die im Krieg gestorben sind, Bassem, Muhammad und Abdallah. Sie waren oft bei uns zu Hause und wir sind jeden Tag zusammen zur Schule gegangen", erzählt er.
Laut dem palästinensischem Bildungsministerium sind fast 5500 Schülerinnen und Schüler und über 260 Lehrerinnen und Lehrer bei der israelischen Offensive umgekommen, die nach dem 7. Oktober und der Geiselnahme der Hamas begann.
Liegt hier Absicht vor?
Seit fast sieben Monaten haben die 625.000 Schüler im Gazastreifen keine Schule mehr besucht. “Es gibt im Moment absolut keine Form der Ausbildung und Schule im Gazastreifen”, sagt Jonathan Crick, der Sprecher des UN-Kinderhilfswerks UNICEF in Jerusalem. UN-Experten prangern inzwischen "die systematische Vernichtung des Bildungswesens“ im Gazastreifen an, wie es in einer letzte Woche von UN-News verbreiteten Erklärung heißt.
"Es ist vertretbar zu fragen, ob hier eine Absicht dahinter liegt, das palästinensische Bildungssystem umfassend zu zerstören, etwas das als 'Scholasticide' bekannt ist", steht dort weiter. Der Begriff "Scholasticide" beziehe sich auf die "systematische Vernichtung der Bildung, durch Verhaftungen, das Töten von Schülern und Lehrern und anderen Bildungsmitarbeitern und die Zerstörung der Bildungsinfrastruktur", wird dort erklärt.
Auch Inger Ashing, die Generaldirektorin von "Save the Children", und Jan Egeland, der Chef des "Norwegischen Flüchtlingsrats", deren Organisationen beide im Gazastreifen aktiv sind, warnen in einer gemeinsamen Erklärung vor den langfristigen Folgen dieser Zerstörung.
Diese habe dauerhafte Auswirkungen auf eine ganze Generation. Es gäbe wegen des Konfliktes keinen Zugang zur Bildung. Aber selbst, wenn die Waffen schweigen, werde es keine Schulen geben, zu denen die Kinder zurückkehren könnten, schreiben sie dort. "Wir wissen aus vorherigen Krisen, je länger die Kinder der Schule fernbleiben, umso größer ist das Risiko, dass sie nie wieder dorthin zurückkehren", mahnen sie.
"Wir versuchen, Unterricht zu imitieren"
Das ist einer der Gründe, warum nun in Khan Yunis, nicht weit entfernt vor der zerstörten Schule der beiden Freude Muhammad und Abed, eine neue Initiative begonnen hat, die zumindest versucht, wieder irgendeine Art von Unterricht einzuführen. Unter freiem Himmel haben sich gut 50 Kinder und ein paar Lehrer versammelt. Auf dem Boden sitzend lesen die Kinder eine Kurzgeschichte von einem an eine Hauswand gehängten Plakat. Ihr Enthusiasmus macht sich schon an der Lautstärke fest, mit der sie das gemeinsam mit dem Lehrer tun.
"Wir haben das begonnen, um den Kindern mit ihren Ängsten und den Bombardierungen auch etwas psychologische Abhilfe zu verschaffen. Wir versuchen, hier richtige Unterrichtsszenen zu imitieren. Sie lernen arabische Gedichte, rezitieren Literatur, haben Englisch- und Mathe-Unterricht", erklärt der Lehrer Muhammad Koudary.
Es sei der Versuch, die Schüler wieder dort abzuholen, wo sie sind, und zu verhindern, dass sie sich noch weiter von ihrer Schulbildung entfernen, so beschreibt er das Ziel seiner Initiative. "Aber das ist natürlich kein Ersatz für wirkliche Schule", gibt er zu. Dann verteilt er ein Dutzend Hefte, viel zu wenig für die anwesenden Kinder. Viele der ausgestreckten Kinderhände bleiben leer.
Ein bisschen Normalität
Die Drittklässlerin Iman Ahmad hat Glück gehabt und geht mit einem Heft nach Hause. Genauer gesagt, geht sie zu dem Container, in dem ihre Familie lebt, seit sie aus Gaza-Stadt vor den israelischen Angriffen hierher in den Süden geflohen ist. Dort verbringt sie den Tag mit ihren Geschwistern. Aber auch hier ist es nicht sicher.
"Vor dem Krieg bin ich jeden Morgen aufgewacht, habe gefrühstückt und habe dann meine Schuluniform angezogen. Jetzt wache ich auf, wenn ich die Explosionen höre. Aber ich habe mich inzwischen daran gewöhnt", erzählt die Kleine.
Ibtisam El-Ramlawy, Imans Mutter, ist besorgt, wie es mit der Bildung ihrer vier Töchter weitergeht. Wenn ihre Töchter von zu Hause sprechen, dann meist über die Schule, in die sie mit ihren Freundinnen gegangen sind.
"Ich habe Angst, dass meine Kinder abdriften, weil sie schon so lange keinen Unterricht mehr haben. Wir haben versucht, das irgendwie zu Hause so gut es geht mit Lehrbüchern auszugleichen. Ich habe so hart daran gearbeitet, dass meine Kinder eine vernünftige Bildung bekommen. Als Mutter ist das Ganze für mich furchtbar", fasst sie ihre Gefühlslage zusammen.
Immerhin, die neue Initiative gibt auch ihrer Tochter ein wenig Hoffnung. "Es erinnert mich an die Zeit mit meinen Freundinnen in der Schule. Das ist ein wundervolles Gefühl, dass ich in den letzten Monaten des Krieges vergessen habe", beschreibt sie das.
Am Ende ihres improvisierten Schulalltags steht der Lehrer Muhammad Koudary mit einem Stempelkissen da, umringt von den Kindern. Er stempelt ihnen ein rotes Herz auf ihre Backen. Es soll eine Bestätigung für ihrer Anwesenheit sein, wenn sie nach Hause gehen. Aber eigentlich ist es viel mehr: eine kleine Erinnerung daran, dass wenigstens für kurze Zeit wieder ein wenig Normalität in das Leben der Kinder eingezogen ist.
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Anmerkung: Dieser Text basiert in Teilen auf Material eines vom Autor in Chan Junis beauftragten Kameramanns.