"Trotz gemeinsamer Sprache gibt es keine Verständigung"
Wie erklären Sie sich die Eskalation der Gewalt in den Pariser Banlieus und in anderen französischen Städten?
Amin Maalouf: In Frankreich versteht man auch nicht so recht, warum so etwas geschieht. Aber es ist ja nicht das erste Mal. Deshalb kann man inzwischen ein bestimmtes Reiz-Reaktions-Muster feststellen. Junge Männer in den Vorstädten zünden Autos an, die Polizei schreitet ein und für ein paar Tage spricht ganz Frankreich darüber. Beruhigt sich das ganze wieder, verstummen im selben Moment auch die Diskussionen über Ursachen und Abhilfe. Dann dauert es wieder ein, zwei Jahre und das ganze fängt von vorn an. Spannungen gibt es permanent.
Die starken Worte des Innenministers Sarkozy, der angekündigt hatte, die Vorstädte mit dem "Hochdruckreiniger vom Gesindel" zu säubern, ändern nichts daran. Dass die Polizei jetzt mit Gerät und Sondervollmachten aufgerüstet werden soll, bestätigt doch, dass die französische Integrationspolitik gescheitert ist?
Maalouf: Das Problem mit der Integration in Frankreich ist, dass man darauf zählt, die Zeit würde es schon richten. Und man geht davon aus, es gäbe eine Art Zaubereffekt, der irgendwann einträte, und die Jungen aus den Vorstädten irgendwann zu richtigen Franzosen werden ließe. Aber es klappt nicht, und zwar schon lange. Was fehlt, ist eine gründliche und von der Politik unabhängige gedankliche Aufarbeitung des Problems. Wie kann Koexistenz sichergestellt, wie Integration bewerkstelligt werden? Leider sehe ich keinerlei Bemühungen in diese Richtung.
Trotz der gemeinsamen Sprache scheint die Kommunikation zwischen den Lagern in Frankreich seit längerer Zeit abgerissen. Warum?
Maalouf: Da gibt es etliche Punkte, die die Verständigung ausgesprochen schwierig machen – trotz der gemeinsamen Sprache. Französisch wird auch von den Arabern und Afrikanern im Land gesprochen. Denn es gibt auch auf internationaler Ebene keine Verständigung mehr zwischen Arabern und dem Westen. Und meiner Meinung nach ist der Graben, den wir heute zwischen Orient und Okzident haben, viel tiefer als noch vor 20 oder 30 Jahren. Für arabische Muslime in Frankreich ergibt sich ein schwerwiegendes Identitätsproblem. Sie fühlen sich ihrer Herkunftsgesellschaft zugehörig, aber auch der, die sie aufgenommen hat. In Wirklichkeit sind junge Araber in Frankreich nicht sehr viel anders als gleichaltrige Franzosen. Aber es bleibt das Problem der Zerrissenheit. Niemand scheint ein Interesse daran zu habe, das zu regeln oder es überhaupt erst einmal ernst zu nehmen.
Welche Fehler der Vergangenheit müssten denn Ihrer Meinung nach als Erstes beseitigt werden?
Maalouf: "Zum Beispiel ist es falsch, alle Kinder aus Immigrantenfamilien auf eine Schule zu schicken. Und es ist ein Hohn, dann denen auch noch zu sagen: In Frankreich herrsche Chancengleichheit. Eine derartige Konzentration von Unterprivilegierten muss in Schulen und in Wohnquartieren verhindert werden. Man hat die Leute aus Afrika in diese Vorstadt-Ghettos gesteckt, um andere Wohnquartiere zu schützen. Aber diese Trennung in Arm und Reich ist sehr ungesund für die ganze Gesellschaft. Man sagt den Kindern der Einwanderer: Ihr seid alle Franzosen. Aber die Betroffenen haben das Gefühl, von der französischen Gesellschaft abgeschnitten und auf die eigene Gemeinschaft zurückgeworfen zu sein. Frankreich ist ein Land, das kaum herausragende Persönlichkeiten mit Migrantenhintergrund aufweisen kann. Höchstens im Sport gibt es einige solcher Personen. Die Franzosen machen sich zwar gerne lustig über solche Alibi-Persönlichkeiten wie Pele in Brasilien, die hochgejubelt werden, während der Rest der Schwarzen sein Leben auf dem Abstellgleis fristet. Aber in Wahrheit haben wir in Frankreich eine vergleichbare Situation. Und auch da scheint niemand zu merken, wie sich der Graben vertieft.
Interview: Brigitte Neumann
© Qantara.de 2014
Der libanesische Schriftsteller Amin Maalouf ist in den 70er Jahren vor dem libanesischen Bürgerkrieg aus seiner Heimat nach Paris geflohen und hat seitdem jahrelang als Autor und Journalist u.a. für die in Frankreich erscheinende Zeitschrift "Jeune Afrique" gearbeitet. 1993 erhielt er für seinen Roman "Der Felsen des Tanios" den Prix Goncourt.