„Die Gräber zu öffnen, hat keine Priorität“

Arbeiter verpacken menschliche Überreste (Foto: picture alliance / Middle East Images | F. Itani)
Arbeiten in einem Massengrab in Damaskus, Dezember 2024 (Foto: Picture Alliance / Middle East Images | F. Itani)

In Syrien fordern Angehörige, dass das Schicksal ihrer Liebsten aufgeklärt wird. Doch bevor man DNA vergleicht, müssen systematisch Fotos, Videos und Akten gesammelt werden. „Es gibt eine Bürokratie der Toten“, sagt der Forensiker Luis Fondebrider.

Interview von Hannah El-Hitami

Qantara: Herr Fondebrider, Sie waren in vielen Ländern an der Suche nach Verschwundenen beteiligt. Welche Ähnlichkeiten sehen Sie zu Syrien und was ist an der Situation dort besonders? 

Luis Fondebrider: Was in allen Ländern ähnlich ist, ist die Verzweiflung der Familien. Sie wollen wissen, wo ihre Angehörigen sind, was ihnen passiert ist, ob sie noch am Leben sind. Ein weiterer Aspekt ist, dass so eine Suche Jahrzehnte dauert. Vierzig Jahre nach dem Ende der Diktatur in Argentinien suchen und finden meine Kolleg*innen dort noch immer die Leichen von Verschwundenen.  

Darum ist es sehr wichtig, keine zu hohen Erwartungen bei den Familien zu wecken. Manche Leichen werden nie gefunden, andere werden gefunden aber nicht identifiziert. Das Besondere an Syrien ist, dass es nicht nur die 23 Jahre Diktatur unter Bashar al-Assad gab. Auch unter seinem Vater verschwanden schon Menschen. Die Menge an Informationen ist riesig.  

Luis Fondebrider (Foto: picture-alliance/ dpa | C. de Luca)
Luis Fondebrider, hier im Jahr 2009, ist forensischer Anthropologe aus Argentinien. Der 61-Jährige hat UN-Untersuchungskommissionen, internationale Gerichtshöfe und Wahrheitskommissionen in Argentinien, Bosnien, El Salvador, Irak und Südafrika beraten. (Foto: Picture Alliance/ dpa | C. de Luca)

Was sollten nach dem Sturz Assads jetzt die ersten Schritte sein? 

Zunächst braucht es eine zentrale Institution für die Suche nach den Verschwundenen. Momentan ist dafür die sogenannte Unabhängige Institution für Verschwundene in der Syrischen Republik (IIMP) der UN zuständig. Es wäre gut, wenn die Syrer*innen eine weitere Institution schaffen würden, die wirklich von und für sie ist.  

Zweitens müssen diese Institutionen alle verfügbaren Informationen bekommen. Verschiedene Organisationen sammeln schon seit Kriegsbeginn vor 13 Jahren Daten und müssen diese nun zusammenbringen. 

Drittens ist es wichtig, den Alltag des Assad-Regimes zu verstehen. Wer machte was? Wer war verantwortlich? 

Schließlich braucht es für die Suche nach den Verschwundenen eine Karte aller möglichen Gräber und Friedhöfe im Land. Und Einheimische müssen ausgebildet werden, um die anstehende Arbeit zu übernehmen. 

Welche Informationen müssen gesammelt werden? 

Wenn es zum Beispiel einen Luftangriff gab, muss geklärt werden, wer dafür verantwortlich war, wann und wo der Angriff stattfand und wie viele Opfer es gab. Wenn Menschen verschwunden sind, muss man wissen, wer, wann, wo und wie das geschah. 

Zum einen gibt es Dokumente, Videos und Fotos. Jeder Staat arbeitet mit schriftlichen Befehlen und administrativen Abläufen. Es gibt immer eine Bürokratie der Toten. Manchmal sind diese Dokumente nicht einmal geheim. Wurde ein Toter zu einem Friedhof gebracht, können wir dort in die Akten gucken.  

Zusätzlich gibt es Berichte von Zeug*innen. Das können Familienmitglieder von Verschwundenen sein oder auch jemand, der eine Person getötet hat oder dabei war, als jemand getötet wurde. Es gibt Totengräber*innen, Gefängnisangestellte oder Leute, die gegenüber von einer Haftanstalt wohnten. 

Am Ende hat man eine riesige Datenmenge. Dann braucht es erfahrene Ermittler*innen, die diese anhand bestimmter Recherchemuster sortieren. 

Warum sind all diese Details so wichtig? 

Wir müssen den Kontext ermitteln, bevor wir ein Grab öffnen. Ich kann nicht einfach eine DNA-Probe in eine Maschine geben und bekomme den Namen der Person.  

Einen zersetzten Körper oder ein Skelett zu identifizieren, ist sehr komplex. Die Informationen über eine Leiche mit der Masse an Verschwundenen in Syrien abzugleichen ist unmöglich.  

Ich brauche also eine Hypothese. Bevor man mit einem Grab arbeitet, muss man eine Theorie haben, wann die Menschen dort beerdigt wurden und wer sie sein könnten. 

Zum Beispiel sollen Massengräber in Syrien zu bestimmten Haftanstalten gehören. Man weiß auch, dass in einige Haftanstalten Menschen aus bestimmten Gegenden oder politischen Kontexten gebracht wurden. 

Mit so einer Hypothese kann ich ein Grab öffnen. DNA kann nicht zaubern. Eine Leiche zu identifizieren bedeutet, mit verschiedenen Informationen zu arbeiten. Ich muss Alter, Geschlecht, Körperbau vergleichen. Wenn die Leiche noch nicht zersetzt ist, kann ich mir Tätowierungen, Narben, Augen- und Haarfarbe, Klamotten ansehen. Das vergleiche ich dann mit den Informationen, die die Angehörigen mir geben. 

Manche Familien sind verständlicherweise ungeduldig. Sie sorgen sich, dass es mit der Zeit immer schwieriger wird, die Toten zu identifizieren. Ist das der Fall? 

Der beste Ort für die Toten ist in den Gräbern, denn dort sind sie vom Erdreich geschützt. Wenn ein Körper in einem Grab liegt und dieses Grab geschützt wird, ist es egal, wie viel Zeit vergeht.

Lokale Politiker wie Bürgermeister in Syrien könnten jetzt dafür sorgen, dass bestimmte Bereiche für die Ermittlung abgesperrt sind und niemand sie anfasst. Meistens gibt es nicht genug Polizei, um Gräber rund um die Uhr zu schützen, aber zumindest sollte es eine behördliche Anordnung geben. 

Was passiert, wenn Gräber nicht geschützt werden? 

Manchmal haben Leute gute Absichten. In Syrien haben einige Gruppen angefangen, Gräber zu exhumieren. Aber wenn kein forensische Archäolog*innen dabei sind, können die Skelette dabei vermischt werden. Es hat aktuell keine Priorität, die Gräber zu öffnen. Ich verstehe natürlich, dass das für die Familien Priorität hat. Aber wenn Gräber ohne gründliche Vorrecherchen geöffnet werden, landen am Ende hunderte von unidentifizierten Skeletten in den Leichenhallen. 

Es gibt auch Fälle, in denen Täter*innen absichtlich Gräber und Leichen zerstören. In Bosnien waren die Massengräber während des Krieges ungeschützt. Die Täter von Srebrenica kamen zurück, öffneten die Gräber und brachten die Körper woandershin. Manchmal werden Gräber auch aus Versehen gestört, zum Beispiel durch Bauarbeiten.  

In jedem Fall macht das die Analyse viel schwieriger. Wenn ein Körper schon zersetzt ist, kann es unmöglich sein, ihn wieder zusammenzusetzen. Es wird unklar, welcher Knochen zu welchem Skelett gehört. Dann bekommen die Familien keine vollständigen Körper zurück. Allein in einer Hand haben wir 27 Knochen. Für 27 Knochen DNA-Proben zu machen, ist sehr teuer. Das kann keiner bezahlen. 

Wenn ein professionelles Team ein Grab öffnet, wie läuft das genau ab? 

Forensische Archäolog*innen sammeln das gesamte Skelett einer Person und alle Beweismittel, die dazu gehören, zum Beispiel Patronenhülsen oder Kleidung. All das wird in die Leichenhalle gebracht. Dort versucht ein fachübergreifendes Team, bestehend aus einem forensischen Pathologen, einer forensischen Anthropologin und einer Röntgenexpertin, die Identität der Person und die Todesursache festzustellen.  

Dazu muss man das Skelett auslegen und zunächst Alter, Geschlecht und Körperbau feststellen. Falls es noch Weichgewebe gibt, wird ein Experte für Fingerabdrücke benötigt. Dann werden alle Ergebnisse mit den Ante-Mortem-Informationen verglichen, also den Informationen über die Person vor ihrem Tod. Für die genetische Untersuchung schneidet man ein Stück Knochen aus dem Oberschenkel und schickt dieses an ein Speziallabor. 

Welche Rolle spielen die Familien der Opfer bei diesen Untersuchungen?  

Die Familien können keinen technischen Beitrag leisten. Aber sie können während der Analysen in der Regel dabei sein. Das ist wichtig für die Glaubwürdigkeit des Prozesses.  

Wenn ich an einem Fall arbeite, sitzen die Familien oft in der Nähe des Grabes. Immer mal wieder verlasse ich das Grab und erkläre ihnen, was wir genau machen. Wenn ich die Exhumierung beendet habe, erkläre ich ihnen, was wir erreicht haben, und beantworte ihre Fragen. Ich zeige ihnen die Leichenhalle, damit sie sehen, dass ich respektvoll mit den Überresten der Toten umgehe.

Welchen Stellenwert sollte Syriens Übergangsregierung der Suche nach den Verschwundenen beimessen? 

Ich verstehe, dass die Regierung sich aktuell um die Grundversorgung kümmern muss. Aber gleichzeitig muss sie den Familien Antworten geben. Die Verschwundenen werden in dieser Gesellschaft für immer ein Thema sein. Es braucht ein Gesetz zum Schutz der Gräber, ebenso der Archive, in denen Informationen lagern.  

Wie können internationale Organisationen und Regierungen diesen Prozess unterstützen?  

Die IIMP ist die zuständige Organisation. Sie hat die Autorität, zu Syriens Verschwundenen zu arbeiten. Jede andere Institution, die das tun möchte, muss sich mit ihr koordinieren. Niemand sollte sein eigenes Ding machen, denn das sorgt nur für Verwirrung und Komplikationen.  

Leider passiert das häufig. Wenn eine Diktatur endet und Ermittlungen plötzlich möglich sind, kommt Geopolitik ins Spiel. Alle westeuropäischen Staaten und die USA schicken ihre Leute, um vor Ort zu beraten. Alle wollen dabei ihre eigenen Verfahren nutzen und es wird chaotisch. Das passierte auf dem Balkan nach Kriegsende und im Irak ab 2003. Das könnte jetzt auch in Syrien passieren. 

 

Dieser Text ist eine Übersetzung des englischen Originals durch die Autorin. 

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