Das große Missverständnis?
Nach nunmehr zehnjähriger Herrschaft kann König Mohammed VI. zwar auf einige politische und ökonomische Erfolge zurückblicken. Allerdings habe sich Marokko während seiner Regentschaft immer mehr in eine absolute Monarchie verwandelt, kritisieren Menschenrechtsaktivisten. Eine Bilanz von Sonja Hegasy
Am 23. Juli 1999 folgte Mohammed VI. seinem Vater nach dessen unerwartetem Tod auf den Thron. Mohammed VI. wuchs im Schatten eines autoritären Vaters auf, der sowohl gegen die marokkanischen Bürger als auch die eigenen Kinder mit eiserner Hand vorging, wie aus den Memoiren unterschiedlicher Weggefährten deutlich wird.
Die Angst vor der Willkür des übermächtigen Vater/Staat, war überall im Land spürbar. Von seinen Gegnern wurde Hassan II. als "skrupelloser Despot", aber auch als "politisches Genie" bezeichnet. Heute spricht man von seiner Regierungszeit als den "bleiernen Jahren".
Vor zehn Jahren galt sein erstgeborener Sohn Mohammed VI. als politisch unerfahren. Viele Beobachter trauten dem damals 36jährigen keine reibungslose Machtübernahme zu. Zwei Erfolge kann der junge Monarch jedoch seitdem für sich verzeichnen: Er modernisiert das Land langsam, aber stetig in wichtigen Teilbereichen.
Zaghafte Reformen
Dazu gehört die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzung unter Hassan II., die juristische Besserstellung von Frauen, größere Medienvielfalt – allerdings immer wieder eingeschränkt durch Haftstrafen für Journalisten – und zunehmend freiere Meinungsäußerung sowie faire Wahlen. Dabei hat er dafür gesorgt, dass die Monarchie selbst in diesem Prozess nie in Frage gestellt wurde. Trotzdem müssen seine Reformen als substanzieller Wandel bewertet werden.
Welche wichtigen Veränderungen hat es in den letzten zehn Jahren gegeben? Die Anerkennung der Berberkultur im Jahr 2000 als zentrales Element nationaler Identität war nicht nur für Marokko, sondern für ganz Nordafrika wegweisend. Zum erstem Mal wurde in einer Thronrede das Wort "Amazigh", mit dem die nicht-arabische Bevölkerung sich selbst bezeichnet, gebraucht.
Zum ersten Mal in der Geschichte der Monarchie nimmt die Frau des Königs eine öffentliche Rolle wahr. Von der Mutter Mohammed VI. gibt es kein einziges Foto, geschweige denn ein Interview oder eine Begegnung mit dem Volk.
Stärkung der Frauenrechte
Die Verbesserung der Rechtssituation von Frauen erhielt ebenfalls Priorität: Die Pflicht der Frau, dem Mann zu gehorchen, wurde abgeschafft – genau wie auch die Rolle des so genannten Vormunds bei der Eheschließung. Frauen können nun ebenso wie Männer die Scheidung einreichen.
Männer können zum Vaterschaftstest gezwungen werden und das Mindestheiratsalter für Frauen wurde auf 18 Jahre heraufgesetzt. Diese Reform wurde 2004 vom König gegen die Widerstände breiter, konservativer Gesellschaftskreise durchgesetzt.
Marokko ist auch das erste und bisher einzige arabische Land, das eine königliche Wahrheitskommission "Instance Equité et Réconciliation" (IER) einsetzte, um Menschenrechtsverletzungen in der Regierungszeit eines ehemaligen Herrschers aufzuklären. Vorsitzender der IER war der renommierte (inzwischen verstorbene) Menschenrechtsaktivist und ehemalige politische Häftling Driss Benzekri.
Die Kommission beschäftigte sich insbesondere mit den marokkanischen Folterzentren, den zahlreichen Fällen von Verschwundenen sowie den Wiedergutmachungsansprüchen der Opfer. Von insgesamt 20.046 eingereichten Gesuchen wurden bis 2007 85 Millionen US-Dollar an knapp 10.000 Opfer ausbezahlt.
Fehlende Strafverfolgung der Täter
Eine juristische Verfolgung der Täter wurde jedoch vom König ausgeklammert. Dagegen veranstalteten unabhängige Menschenrechtsorganisationen eigene Anhörungen im Land und forderten eine Strafverfolgung der Täter.
Andere zentrale Elemente von Demokratisierung, wie etwa Herrschaftskontrolle und Rechtsstaatlichkeit, sind dagegen weiterhin schwach ausgeprägt in Marokko. Auch die Armutsbekämpfung findet nur punktuell statt.
2007 kam es in verschiedenen Orten zu Protestmärschen und Aufständen, die manche Beobachter mit den "Brotrevolten" von 1981 und 1984 verglichen. Überall im Land brachen Streiks aus, zeitweise war auch in der Hauptstadt kein frisches Gemüse mehr erhältlich, da die Lastwagenfahrer die Arbeit verweigerten. Auch die Bergarbeiter von Jbel Awam streikten über zwei Monate lang für verbesserte Arbeitsbedingungen.
Wachsende soziale Disparitäten
In die Amtszeit von Mohammed VI. fallen auch die Attentate vom 16. Mai 2003 in Casablanca. 15 jugendliche Attentäter sprengten sich an fünf verschiedenen Orten in Casablanca in die Luft und rissen insgesamt 45 Menschen mit in den Tod.
"Alle Attentäter kamen aus den Slumgebieten um Casablanca, so dass dem selbst ernannten "König der Armen" die Frage nach den sozialen Disparitäten im Land neu gestellt wurde. Immerhin reduzierte sich der Anteil der Bevölkerung in relativer Armut von seinem Amtsantritt bis 2007 auf 9 Prozent.
Auch der Zugang zu sicherem, gepumpten Wasser hat sich deutlich verbessert ( Human Development Report 2007/2008). Nach Angaben des Ministeriums für Energie, Bergbau, Wasser und Entwicklung sind inzwischen sogar 92 Prozent aller ländlichen Haushalte an das Stromnetz angeschlossen.
Bei den Kommunalwahlen im Juni 2009 gewann die von seinem Gefolgsmann Fouad Ali Himma neu gegründete "Partei der Authentizität und Modernität" (PAM). Bei einer Wahlbeteiligung von 51 Prozent wurde sie mit rund 22 Prozent gewählt."
Die politische Entourage des Königs
Himma gehört zu der Entourage des Königs, die mit ihm im Palast aufgewachsen ist und dort erzogen wurde. In der Palastschule wurden ausgewählte Kinder aus dem ganzen Land ausgebildet, um die Machtbasis des Kronprinzen zu festigen.
Damit ist ein anderes Phänomen angesprochen, dessen sich Mohammed VI. seit seinem Amtsantritt bedient: Er besetzt die wichtigsten Schaltstellen marokkanischer Politik mit seinen Weggenossen aus dieser Zeit. Zwar setzt auf diese Weise ein Generationenwechsel ein, der jedoch nicht automatisch für demokratische Reformen garantiert.
Anlässlich der zehnjährigen Thronbesteigung veröffentlichte der Journalist Ali Amar ein Skandalbuch unter dem Titel: "Mohammed VI. – das große Missverständnis. Zehn Jahre im Schatten Hassan II.". Ali Amar gehörte als Mitbegründer der wichtigsten oppositionellen Zeitung "Le Journal" 1997 zu den bedeutenden Protagonisten der marokkanischen Öffnungspolitik.
Zwar sieht auch Amar politische und ökonomische Fortschritte – etwa bei der Erschließung ländlichen Regionen -, aber die große Hoffnung auf bürgerliche Freiheiten sieht er bitter enttäuscht. Was laut Verfassung eine konstitutionelle Monarchie sein soll, in Wirklichkeit aber eine absolute Monarchie ist, nennt Ali Amar nun "Hyper-Monarchie".
Sonja Hegasy
© Qantara.de 2009
Dr. Sonja Hegasy ist Islamwissenschaftlerin und Vizedirektorin des Zentrum Moderner Orient (ZMO).
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