Der Polizeistaat ist zurück
Der Abwärtstrend, der Marokko in den letzten Jahren erfasst hat, macht sich auf verschiedene Weise bemerkbar: Der politische Prozess steht still und die Wirtschaft wird von einigen wenigen Akteuren beherrscht. Gleichzeitig schrumpft der Spielraum der Zivilgesellschaft während das Regime die Medienlandschaft durch die massive Unterstützung der regierungstreuen Presse entscheidend beeinflusst.
Der Entschluss der politischen Entscheidungsträger, auf innenpolitische Herausforderungen wie die Rif-Bewegung, die Demonstrationen in Jerada oder die Proteste der angestellten Lehrerinnen und Lehrer mit dem Einsatz des Sicherheitsapparates zu reagieren, setzt diesen Abwärtstrend fort. Auch die Mär von der reuigen Staatsmacht, die erkannt hat, dass der Einsatz von Gewalt in einigen Fällen ein Fehler war, wurde damit endgültig als Lüge entlarvt.
Der tiefe Staat setzt bewusst auf Repressionen und Gewalt, um die ihm abgerungenen Zugeständnisse ungeschehen zu machen und sich den Respekt zurückverschaffen, den er durch den Aufruhr in der Öffentlichkeit während des Arabischen Frühlings eingebüßt hat.
Dem Druck nicht standgehalten
Parteien, Gewerkschaften und zivilgesellschaftliche Kräfte haben die Botschaft verstanden und ihr Verhalten entsprechend angepasst: Im Vergleich zu den ersten Jahren nach Inkraftsetzung der neuen Verfassung formulieren sie ihre Kritik an Staat, Regierung und politischem Kurs nicht nur weniger drastisch, sie hat auch insgesamt spürbar nachgelassen.
Immerhin, ein kleiner Kreis aus demokratisch denkenden Intellektuellen, Akademikern, Menschenrechtlern, Journalisten und Künstlern kämpft unermüdlich dafür, dem Abwärtstrend etwas entgegenzusetzen. Gestützt auf die Grundsätze der Verfassung und die Errungenschaften der vergangenen Jahre versuchen sie, die verbliebenen Freiheiten zu bewahren, Korruption und Unterdrückung zu bekämpfen und die demokratische Transition am Leben zu erhalten.
Die Rückkehr des tiefen Staates zu seinen alten Mechanismen markiert das Ende des Arabischen Frühlings in Marokko. Doch die kleine Gruppe unbelehrbarer Träumer, die der ehemalige Finanzminister auch als "Narren" bezeichnete, die unbeirrbar an ihrer Vision von einem demokratischen Land festhält, sorgt immer wieder für Unruhe in den Reihen der treu ergebenen Staatsdiener. Die Obrigkeit musste daher einen Weg finden, die Störenfriede "zur Vernunft zu bringen" und ihnen ein für alle Mal klar zu machen, dass die Revolution vorbei ist.
Getroffen hat es schließlich die unabhängige Presse, an der das Regime mittels sorgsam ausgewählter Ziele ein Exempel statuierte. Auserkoren wurden Persönlichkeiten aus der Medienlandschaft, die durch ihre journalistische Arbeit zu Symbolen der demokratischen Bewegung geworden waren, weil sie in ihren Texten die Machenschaften des autoritären Regimes und des Dunstkreises der Macht aufdeckten.
Marokko als eines der Schlusslichter in Sachen Pressefreiheit
Auf dem internationalen Index für Pressefreiheit rangiert Marokko mit Platz 135 im weltweiten Vergleich und Platz 39 unter den afrikanischen Staaten auf den hinteren Rängen. Um den Eindruck zu vermeiden, das Regime würde die Pressefreiheit weiter einschränken, ging es dazu über, unter dem Vorwand der nationalen Sicherheit oder Sittenwidrigkeit juristisch gegen die vermeintlichen Unruhestifter vorzugehen. Zudem setzte es die regierungstreue Boulevardpresse auf sie an, um eine Vorverurteilung in der Öffentlichkeit zu erreichen, bevor ihr Fall überhaupt vor Gericht verhandelt wurde.
Ihren Anfang nahm die Kampagne mit dem Journalisten Ali Anouzla. Im Juli 2013 hatte Anouzla, der zu dieser Zeit das Internetportal "Lakum" betrieb, kritisch über die königliche Amnestie für den spanischen Kinderschänder Daniel Galván berichtet. Genau zwei Monate später sah sich Anouzla mit einem Verfahren auf Grundlage des Anti-Terrorgesetzes konfrontiert, weil er auf seiner Website einen Artikel über ein Video der Terrororganisation "Al-Qaida im islamischen Maghreb" veröffentlicht hatte, in dem er mit einem Link auf eine spanische Zeitung verwies, die sich bereits zuvor mit der Materie befasst hatte.
Die Staatsanwaltschaft konstruierte aus Anouzlas meinungsstarker journalistischer Aufarbeitung der Thematik den Vorwurf der Terror-Propaganda. Da das Pressegesetz zu wenig Interpretationsspielraum bot, zogen es die Behörden vor, auf Grundlage des Anti-Terrorgesetzes gegen den Journalisten vorzugehen, obwohl er die Webseite aus dem Netz genommen und eine Erklärung veröffentlicht hatte, in der er sich klar und deutlich gegen jegliche Form des Terrorismus aussprach.
Hamid El Mahdaoui, Gründer und Chefredakteur des Nachrichtenportals "Badil.info", verbüßt hingegen derzeit eine dreijährige Haftstrafe, nachdem er in der nordmarokkanischen Stadt Al Hoceïma auf offener Straße festgenommen wurde, als er dort am 20. Juli 2017 einen Protestmarsch dokumentieren wollte. Die Staatsanwaltschaft beschuldigte ihn, "die Behörden nicht über eine potenzielle Gefahr für die nationale Sicherheit in Kenntnis gesetzt zu haben", nachdem er telefonisch von einem in den Niederlanden ansässigen Marokkaner von angeblichen Waffenlieferungen an die Anführer der Rif-Bewegung erfahren haben soll. El Mahdaoui bestreitet die Vorwürfe. Seiner Ansicht nach ist die Haftstrafe der Preis, den er für seine öffentliche Solidarisierung mit den Forderungen der Bewegung zahlen muss.
Verhängnisvolle Kritik am Machtapparat
Das jüngste Opfer des sich Schritt für Schritt wieder etablierenden Polizeistaates war die unabhängige Tageszeitung "Akhbar al-Yaoum". Ihr Chefredakteur Taoufik Bouachrine wurde unter anderem wegen des Vorwurfs des Menschenhandels und des Machtmissbrauchs zum Zweck sexueller Ausbeutung zu einer Haftstrafe von 12 Jahren verurteilt. Inzwischen wurde die Haftstrafe um drei weitere Jahre verlängert.
Eines ist jedoch sicher: Der wahre Grund für seine Verhaftung waren seine mutigen und scharfsinnigen Leitartikel, in denen er auch nicht davor zurückschreckte, dem König Ratschläge zu erteilen. Durch seine Kritik an den Korruptionsnetzwerken innerhalb des Staatsapparates, deren Verbindungen der Unruhe nach zu urteilen, die seine Artikel in mehreren arabischen Ländern ausgelöst haben, offensichtlich bis ins Ausland reichen, brachte Bouachrine zudem verschiedenste Fraktionen im Regime gegen sich auf.
Die Zeitung hielt jedoch an ihrer redaktionellen Linie fest und verschärfte ihre Kritik an den Missständen in Marokko sogar noch. Das wurde einer weiteren ihrer Journalistinnen und Journalisten zum Verhängnis: Hajar Raissouni wurde wegen des Vorwurfs der Korruption und Abtreibung festgenommen, als sie gerade mit ihrem sudanesischen Verlobten eine Arztpraxis verließ. Doch ihr ebenfalls festgenommener Arzt hat die Vorwürfe zurückgewiesen und auch diverse medizinische Untersuchungen, denen sich Raissouni während der Ermittlungen auf Befehl der Staatsanwaltschaft unterziehen musste, konnten sie nicht bekräftigen.
Der tiefe Staat untergräbt die demokratischen Errungenschaften
Ungeachtet dessen wurde Raissouni zu einer einjährigen Haftstrafe verurteilt und blieb während des Prozesses in Haft, obwohl ausreichend Sicherheiten vorhanden waren, um sie für die Dauer des Verfahrens auf freien Fuß zu setzen. Zudem entbehrten die Anschuldigungen der Staatsanwaltschaft von Anfang an jeglicher Grundlage, da selbst bei größtmöglicher Ausschöpfung des juristischen Interpretationsspielraums kein Verstoß gegen die im marokkanischen Familienrecht festgelegten Bestimmungen zur Schwangerschaft innerhalb einer Verlobung vorlag.
Seit sich zwischenzeitlich die revolutionäre Stimmung in der ganzen Region etwas gelegt hat, arbeitet der tiefe Staat in Marokko daran, die bisher erreichten demokratischen Errungenschaften ungeschehen zu machen. Auch die fortschrittlichste Verfassung kann das nur bedingt verhindern, wenn überkommene politische und kulturelle Vorstellungen die Interpretation und Umsetzung ihrer Prinzipien und Bestimmungen leiten.
Der Geist der marokkanischen Verfassung schlägt sich dementsprechend nicht zwangsläufig in der politischen Realität nieder, insbesondere da der tiefe Staat keinerlei Absicht hegt, seine autoritäre und repressive Vergangenheit tatsächlich hinter sich zu lassen.
Mohamed Taifouri
© Qantara.de 2019
Aus dem Arabischen von Thomas Heyne