Spiegelbild der Gesellschaft
Nein, die Schlüssel dürfen auch in diesem Buch über die Nakba nicht fehlen – die großen, angerosteten Schlüssel ihrer alten Häuser, die vertriebene Palästinenser in Flüchtlingslagern schon fast reflexhaft vorzeigen als Symbol für das Unrecht, das ihnen und ihren Familien 1948 durch den entstehenden Staat Israel angetan wurde.
Die Schlüssel stehen im Zentrum vieler Publikationen über die "Nakba", die Katastrophe, so wie die Palästinenser die Vertreibung aus ihrer Heimat im Jahr 1948 empfunden haben. Das bildstarke Symbol hat aber an Kraft verloren, weil eine Konfliktlösung im Nahen Osten – wie auch immer sie zustande kommen mag –, sicherlich keine Rückkehr der Flüchtlinge in ihre alten Wohnorte und Häuser auf israelischem Staatsgebiet beinhalten wird.
So ist es äußerst wohltuend, dass die Schweizer Journalistin Marlène Schnieper in ihrem Buch "Nakba – die offene Wunde" äußerst sparsam mit emotionsbeladenen Klischees wie den Schlüsseln umgeht.
Ihr gelingt der Spagat, einerseits ihre Sympathien für die Palästinenser deutlich offenzulegen und andererseits bei der Schilderung der Ereignisse auf der Sachebene zu bleiben. Ausführlich und präzise beschreibt sie die bürgerkriegsähnlichen Zustände vor der israelischen Staatsgründung.
Sie betont, dass die arabischen Staaten im Krieg nach der Staatsgründung weit weniger geeint, ausgerüstet und entschlossen für die Sache der Palästinenser kämpften als ihre martialische Rhetorik dies suggerierte. ("Egal, wie viele Juden es da gibt. Wir werden sie ins Meer werfen", so Abd al-Rahman Azzam Pasha, der erste Generalsekretär der Arabischen Liga).
Die Folgen des Massakers von Deir Yassin
In ihrer Schilderung beruft sich Schnieper in erster Linie auf die Erkenntnisse der israelischen Neuen Historiker, die seit Ende der 1980er Jahre die Gründungsmythen ihres Staates erschüttert haben. Etwa, dass die Palästinenser vor der israelischen Unabhängigkeit freiwillig ihre Häuser verlassen hätten.
Schnieper stellt dar, wie die geplante und teilweise brutale Vertreibung der Palästinenser aus einzelnen Orten eine Kettenreaktion im gesamten Land auslöste: So hätten Nachrichten und Gerüchte über das Massaker von Deir Yassin zahlreiche Palästinenser zu Flucht bewogen.
Am 9. April 1948 hatten die zionistischen Untergrundorganisationen Irgun und Léhi in dem Dorf nahe Jerusalem zwischen 100 und 120 Menschen getötet – Gerüchte machten schnell die Runde, die Zahl der Getöteten läge doppelt so hoch und die Milizionäre hätten auch arabische Frauen vergewaltigt.
Die Berichte aus Deir Yassin hätten auch für seine Familie den Ausschlag für die Flucht gegeben, sagt Hasan Hammami in Schniepers Buch. Die Autorin stellt insgesamt sechs palästinensische Familien vor, beschreibt, wie das Jahr 1948 ihr Leben verändert hat.
Geschickt verknüpft sie dabei Biographisches mit der Zeitgeschichte. Die Hammamis etwa waren eine wohlhabende Obsthändler-Familie aus Jaffa, die nach der Flucht in den Libanon ihr Haus und einen Großteil ihres Vermögens verloren haben. Dank guter Kontakte musste die Familie, anders als viele andere, im Libanon nicht im Flüchtlingslager leben und Hasan Hammami konnte wie seine Schwester im Exil eine erfolgreiche berufliche Karriere starten: "Als Flüchtlingskinder können wir uns sehen lassen, nicht wahr?", zitiert ihn die Schweizer Autorin.
Es gehört zu den Stärken von Schniepers Buch, dass die Palästinenser nicht als passive Opfer dargestellt werden, sondern als Akteure, die auf mehr oder weniger erfolgreiche Weise mit dem Unrecht umgehen, dass ihren Familien angetan wurde.
Da ist der Gelegenheitsjobber, der immer wieder aufs Neue hoffen muss, in Israel eine Arbeitserlaubnis zu bekommen, damit er über die Runden kommt. Da ist der Vater im Flüchtlingslager Balata im Westjordanland, der seine beiden Söhne verloren hat.
Querschnitt durch die palästinensische Gesellschaft
Nachdem der eine durch einen israelischen Angriff getötet wurde, versuchte der andere als Selbstmordattentäter Rache zu nehmen, wurde aber vor der Tat von israelischen Soldaten erschossen.
Da ist eine Beduinenfamilie, die sich von niemandem so richtig repräsentiert fühlt. Sie alle kommen ebenso ausführlich zu Wort wie Sari Nusseibeh, der querdenkende Philosoph aus einer alten Jerusalemer Adelsfamilie und Ahmed Yousef, intellektueller Berater der Hamas-Führung im Gaza-Streifen – ein Islamist, der von sich sagt, seine beste Zeit in Washington verlebt zu haben.
Es ist dieser biographische Querschnitt durch die palästinensische Gesellschaft, der dieses Buch so lesenswert macht. In der Familiengeschichte der Portraitierten findet die Autorin immer wieder Belege dafür, dass die Geschichte von 1948 noch heute nachwirkt und Muster, die den Konflikt im Nahen Osten noch heute prägen: von der Zerstrittenheit der palästinensischen Führung über die mangelnde Unterstützung der arabischen Staaten für die Palästinenser bis zur andauernden Landnahme durch Israel und seine Siedler, gestützt durch die militärische Überlegenheit des jüdischen Staates.
Das alles ist nicht wirklich neu, und wer sich bereits ausführlich mit dem Nahostkonflikt beschäftigt hat, dem kommt bei der Lektüre manches bekannt vor. Sehr zu empfehlen ist Marlène Schniepers Buch daher vor allem für Einsteiger: Wer verstehen will, was die Gründung des Staates Israel für viele Palästinenser bedeutet hat, dem gibt "Nakba – die offene Wunde" einen gut lesbaren Einblick – hilfreich sind dabei auch die ausführliche Chronologie und das Glossar.
Moritz Behrendt
© Qantara.de 2012
Marlène Schnieper: Nakba – Die offene Wunde. Die Vertreibung der Palästinenser 1948 und die Folgen, Rotpunktverlag, Zürich 2012
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de