Glaube als moralische Instanz
Wolfgang Schäuble hat das Image, in erster Linie ein knallharter Sicherheitspolitiker zu sein. In weiten Kreisen, vor allem links von der Mitte, hat er sich den Ruf erworben, mit seinen Sicherheitsmaßnahmen gegen etwaige Terrorangriffe einem autoritären Überwachungsstaat Vorschub zu leisten. Doch jeder, der Wolfgang Schäubles neues Buch gelesen hat, weiß, dass dies weniger als die halbe Wahrheit ist.
"Braucht unsere Gesellschaft Religion?" ist Teil der Reihe 'Berliner Reden zur Religionspolitik', die seit 2008 von der Berlin University Press herausgegeben wird. Darin ist unter anderen Udo Di Fabios "Gewissen, Glaube, Religion" erschienen, worin die rigide europäische Ablehnung von Religion kritisiert wird – ebenso wie in José Casanovas "Europas Angst vor der Religion".
Auch Rolf Schieder, Herausgeber der Reihe, hat einen Band mit dem Titel "Sind Religionen gefährlich" publiziert, mit dem Glaube und Religion rehabilitiert werden sollen.
Regressive 'Back to the roots'-Haltung
Jetzt hat sich auch der promovierte Jurist Wolfgang Schäuble daran gewagt, den Wert des Glaubens für die Politik zu definieren. Das ist in doppelter Hinsicht spannend.
Zum einen, weil die Religion in der Politik, auch in der CDU, seit Jahren kaum mehr eine Rolle mehr spielt. Zum anderen, weil sich auch viele renommierte Gesellschaftswissenschaftler mit ihren Antworten zu diesem Thema gehörig blamiert haben.
Das entweder, weil die Ausführungen bis zur Bedeutungslosigkeit vage und unbestimmt blieben, oder aber, weil sie von einer trotzig-regressiven 'Back to the roots'-Haltung gekennzeichnet waren, mit welcher Aufklärung und Rationalismus grundsätzlich verdammt werden.
Dem deutschen Innenminister gelingt es indessen mit einer scheinbar unangestrengten intellektuellen Souveränität, diese beiden Klippen zu umschiffen.
Wissen um Unverfügbares
Gleich zu Beginn wird eine entscheidende Frage aufgegriffen: Wie kann man erreichen, dass man Menschen durch Religion miteinander verbindet, und gleichzeitig vermeiden, dass auf der Grundlage unterschiedlicher religiöser Bekenntnisse neue Gräben aufgerissen werden?
Schäuble schreibt, dass hier der bei allen monotheistischen Religionen zentrale Bezug auf Gott eine tragende Rolle spielen könnte. Im Grundsatz komme es darauf an, dass Menschen wissen, dass sie mit ihrem eigenen Leben und Tun in der Verantwortung vor einer Autorität stehen, die sich nicht selbst eingesetzt haben.
Die Religionen erfülle die Menschen mit der Gewissheit, "dass sie sich auf etwas beziehen, was größer ist als sie selbst. Dass da etwas ist, das von ihnen nicht gemacht, aber von ihnen zu respektieren ist. (…) Schon das hat weit reichende Folgen für politisches und gesellschaftliches Handeln. Wissen um Unverfügbares ist eine Vorkehrung gegen totalitäre Macht und Machtmissbrauch."
Ein schmaler Grat
Freilich könnte man monieren, dass auch der Glaube an Gott falsch verstanden werden könnte und die Menschen nicht immer automatisch mit Demut erfüllt, sondern immer wieder auch in hitzköpfige Fanatiker verwandelt. Doch muss man sich zunächst einmal klar machen, auf was für einem schmalen Grat man sich bewegt, wenn man die Rolle der Religion in einer aufgeklärten, pluralistischen Gesellschaft definiert.
Schäuble hat diesen schmalen Grat gefunden und er hat ihn begrifflich festgehalten. Es mag nicht viel erscheinen, was er in dieser Hinsicht zusammengetragen hat; aber es ist mehr, als die meisten Autoren zu diesem Thema überhaupt vorbringen.
In "Braucht unsere Gesellschaf Religion?" geht Wolfgang Schäuble auch auf den Islam in Deutschland ein. Dabei beschwört er nicht das Schreckgespenst der 'Parallelgesellschaft' hinauf, und er verfällt auch nicht in einen hysterischen Alarmismus.
Schäuble verweist im Gegenteil darauf, dass es Jahrhunderte gedauert hat, das Verhältnis von Staat und christlicher Religion zu regeln, und man angesichts dessen nicht erwarten darf, dass sich die Probleme zwischen Staat und Islam in Europa über Nacht oder ohne Konflikte in den Griff kriegen ließen. Innerhalb der kurzen Zeit sei schon viel erreicht worden.
Und zur Integration des Islams in Deutschland gebe es keine Alternative, so Schäuble. Denn ein Nebeneinanderher sei nicht nur wenig wünschenswert, sondern faktisch auch gar nicht mehr möglich.
Verunsicherung der deutschen Mehrheitsgesellschaft
"Deswegen muss es gelingen, dass auch und gerade Muslime, die als Zuwanderer zu uns gekommen sind oder die schon in der zweiten, dritten, vielleicht sogar vierten Generation hier leben, sich hier sicher, zu Hause, daheim fühlen. In einem Europa, in dem sie sich nicht zuhause oder gar ausgegrenzt fühlen, werden sich Muslime niemals integrieren wollen."
Die Unsicherheit, die die Debatte um den Islam so schwierig macht, die Verunsicherung gerade auf Seiten der deutschen Mehrheitsgesellschaft, gibt es bei Schäuble jedoch nicht. Er macht deutlich, dass bestimmte Grundwerte aus seiner Sicht nicht verhandelbar sind.
"Integration ist keine Einbahnstraße, sondern ein zweiseitiger Prozess", so Schäuble. "Sie setzt voraus, dass die Zuwanderer hier heimisch werden wollen. Wer das partout nicht will, wer beispielsweise nicht will, dass seine Kinder – im Besonderen seine Töchter – in einer offenen westlichen Gesellschaft aufwachsen, weil ihn vieles daran stört, der trifft eine falsche Entscheidung, wenn er auf Dauer in Mitteleuropa lebt. Man muss die Bedingungen des neuen Heimatlandes akzeptieren (…), denn wir sind nicht bereit, die Regeln von Toleranz, Vielfalt und Pluralismus zur Disposition zu stellen."
Integration führt durch die Mitte
Dieses Buch zeigt, dass das Land nicht vor der Alternative steht, entweder von einer, "fremden" Kultur überrannt zu werden, oder alle Zugewanderten einer chauvinistischen deutschen Leitkultur zu unterwerfen.
Im Gegenteil: Schäuble macht deutlich, dass der Königsweg nicht über die Extreme führt, sondern genau durch die Mitte. "Menschen zu integrieren, ihnen zu helfen, sich zugehörig zu fühlen, ist (…) auch das, was das Zusammenwachsen unseres Kontinents insgesamt vorangebracht hat", schreibt er und erinnert daran, dass genau das uns bei allen Irrungen und Schwierigkeiten eine der längsten Friedensperioden unserer Geschichte eingebracht hat.
Deswegen ist dieser kleine Band ein so großer Wurf: In einer Zeit der kulturellen Verunsicherung macht er deutlich, aus welchem Stoff die wahren europäischen Werte gemacht sind, und wie kraftvoll sie sind und welche Zukunft sie haben.
Lewis Gropp
© Qantara.de 2009
Wolfgang Schäuble: Braucht unsere Gesellschaft Religion? – Vom Wert des Glaubens, Berlin University Press, Berlin 2009.
Qantara.de
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