Wechselseitige Einflüsse, brüchige Beziehungen
Eine Annäherung der Türkei an die EU könnte positive Rückwirkungen auf das europäische Verhältnis zur arabisch-islamischen Welt haben, meint der libanesische Experte für Türkeistudien Muhammad Noureddine.
Vierhundert Jahre lang war die arabische Welt ein fester Bestandteil des Osmanischen Reiches gewesen, und die Araber waren die letzte Volksgruppe, die die Abspaltung vom osmanischen Zentrum gefordert hatten. Doch nachdem der Erste Weltkrieg mit der Niederlage des Osmanischen Reiches endete, begann ein dunkles Kapitel gespannter Beziehungen zwischen den Türken und der arabischen Welt.
Die von Atatürk unter dem Motto "Frieden im Lande, Frieden in der Welt" praktizierte Abschottungspolitik verstärkte diese Kluft zusätzlich, ohne dass die Beziehungen jedoch von Hass oder Feindschaft geprägt gewesen wäre. Die Türkei hielt zu den Arabern eine ebenso große Distanz wie zum übrigen Ausland – Atatürk ging kein einziges Mal auf Auslandsreise.
Türkisch-arabische Entfremdung
Systematisch begann die türkisch-arabische Entfremdung – vom Iskenderun-Problem mit Syrien Ende der dreißiger Jahre abgesehen – erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, als die Türkei sich dem westlichen Lager anschloss und Stellung gegen den kommunistischen Ostblock bezog.
Dazu gehörten die Anerkennung Israels und der Beitritt zur NATO, aber auch zu anderen westfreundlichen Bündnissen wie insbesondere dem Bagdad-Pakt.
Die türkische Nahost-Außenpolitik ergab sich demzufolge aus vertraglichen Bindungen mit westlichen Staaten und mit Israel. Dies hatte Misstrauen und Spannungen zur Folge, ja in manchen Fällen führte es sogar zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Arabern und Türken. Ende 1998 wäre es beinahe zu einem offenen Krieg zwischen Syrien und Israel gekommen.
Zu einem tief greifenden Wandel kam es 2002 mit der Regierungsübernahme der islamisch geprägten "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" in der Türkei. Diese praktizierte eine neue Politik gegenüber der islamischen Welt und betrieb eine relative Distanzierung von Israel, wodurch sich größere Möglichkeiten für Präsenz und Einfluss in den arabischen Ländern als vorher ergaben.
Außenpolitischer Wandel
Die islamische Ausrichtung der türkischen Regierungspartei wurde in einer stärkeren Annäherung an Iran sichtbar, aber auch in einer Stärkung der Wirtschaftsbeziehungen zu den arabischen Golfstaaten, in Kontakten mit islamischen Kräften in Palästina sowie in einer Neugestaltung der Beziehungen mit Syrien, die die optimistischsten Erwartungen übertraf.
Diese veränderte türkische Außenpolitik ging aber nicht zu Lasten der Beziehungen mit dem Westen und insbesondere der EU. Zum ersten Mal in der modernen Geschichte unterhält die Türkei heute gute Beziehungen zu allen Staaten in der Region und in der Welt.
Dies ist nicht nur auf den Willen der Führung der "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" zurückführen. Aber die aktuelle internationale Situation nach dem Wahlsieg der nun allein regierenden Partei und deren zutreffende Interpretation der eingetretenen Veränderungen trugen entscheidend dazu bei, dass die türkische Außenpolitik eine neue Richtung nahm.
Arabisches Misstrauen gegenüber Säkularismus
Niemand wird bestreiten, dass der Säkularismus der islamischen Türkei auch ein trennender Faktor war, der das Misstrauen der islamischen und arabischen Welt nährte.
So war der Besuch von König Abdullah von Saudi-Arabien in der Türkei im August 2006 der erste eines saudischen Königs seit mehr als 50 Jahren – eine ungewöhnliche Tatsache für zwei geografisch so nahe beieinander liegende islamische Staaten.
Zwar besteht die laizistische Regierungsform in der Türkei unverändert fort, und die Islamisten der "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" bekräftigen Tag für Tag, dass sie daran festhalten wollen, aber das neue Image der Türkei in der Ära von Recep Tayyip Erdogan und seiner Parteigefährten hat dazu geführt, dass die Muslime das Interesse der Türkei an einer EU-Mitgliedschaft positiver wahrnehmen als zuvor.
Manche meinen sogar, dies läge auch im Interesse der arabischen Staaten.
Vielschichtiges Verhältnis
Man kann den Einfluss der türkisch-europäischen Beziehungen auf die EU und ihre Präsenz im Nahen Osten jedoch nicht ausschließlich aus einem bestimmten Blickwinkel betrachten, denn dieses Verhältnis ist äußerst vielschichtig.
Es wird auch dadurch bedingt, wie weit die türkisch-europäischen Beziehungen sich entwickeln werden und ob es zu einer EU-Mitgliedschaft der Türkei kommen oder bei einer gewöhnlichen Beziehung bleiben wird.
Die Beziehungen könnten aber insgesamt einen Rückschlag erleiden, wenn die Türkei dauerhaft aus der EU ausgeschlossen bliebe. In jedem Fall ist unzweifelhaft, dass die Annäherung der Türkei an die EU positive Rückwirkungen auf das europäische Verhältnis zur arabischen und der islamischen Welt haben wird.
Allein die Bereitschaft des christlichen Europas, die muslimische Türkei aufzunehmen, wäre ein Signal, dass Europa der islamischen Welt nicht auf religiöser Grundlage begegnen will. Es könnte ein neues Kapitel guter Beziehungen zwischen Muslimen und Christen weltweit und eine echte Chance für Dialog und Interaktion zwischen Kulturen und Religionen eröffnen.
Bruch eines historischen Tabus
Die Türkei bietet Europa und der Welt eine Gelegenheit, Stabilität und Frieden zu schaffen. Wenn die Türkei die Auflagen für eine EU-Mitgliedschaft erfüllen soll, dann ist Europa seinerseits aufgefordert, sich der strategischen Bedeutung bewusst zu werden, die die Aufnahme eines islamischen Landes in seine Reihen hinsichtlich der Beziehungen zur islamischen Welt insgesamt hätte.
Die Türkei bricht mit ihrer Forderung nach Aufnahme in eine christliche Gemeinschaft ein historisches Tabu. Europa sollte darauf mit der Gewährung einer Vollmitgliedschaft reagieren, wenn die Türkei alle damit verbundenen Auflagen erfüllt.
Nur so könnte Europa beweisen, dass es sich von seiner Geschichte befreit hat. Zudem wäre dieser Schritt ein Beitrag zur gesellschaftlichen Stabilität zwischen den europäischen Gesellschaften und den muslimischen Zuwanderern in Europa selbst.
Positive Auswirkungen der EU-Mitgliedschaft
Eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU oder auch nur eine verstärkte Unterstützung Europas für die Türkei in Sachen Demokratie sowie Bürger- und Menschenrechte würde sich sehr positiv auf die Zukunft der islamischen Welt auswirken.
Man würde dort einen lebendigen Prozess wahrnehmen, der auch der islamischen Welt Lösungen für manche ihrer Probleme böte, sei es beim Umgang mit religiösen, konfessionellen oder ethnischen Minderheiten, bei der Korruptionsbekämpfung oder der Verringerung der Klassenunterschiede.
Die Existenz eines "fertigen" türkischen Modells, das ähnliche Umstände aufweist wie sie in anderen islamischen und arabischen Ländern existieren, wird eine Chance darstellen, von dieser Erfahrung zu profitieren, ohne sie gänzlich zu imitieren. So gesehen wird die EU den Hauptnutzen haben, insbesondere auch in Bezug auf die Forderung nach einer Demokratisierung im Nahen Osten.
Aber die mögliche Vorbildfunktion eines türkischen Modells unter europäischer Schirmherrschaft hängt auch davon ab, inwieweit die Türkei ihre islamische Identität und ihre kulturellen Besonderheiten gesellschaftlich bewahren könnte.
Die Türkei als muslimisches Mitglied der EU wäre auch ein zusätzlicher Schlüssel für verstärkte Wirtschaftsbeziehungen zwischen Europa, der arabischen und islamischen Welt.
Der arabisch-israelische Konflikt
Trotzdem ist einer der entscheidendsten Faktoren für positive oder negative Auswirkungen der türkisch-europäischen Beziehungen auf die arabisch-islamische Welt die Frage, wie sich der arabisch-israelische Konflikt weiterentwickelt.
Ein gutes Verhältnis zwischen der Türkei und Europa bliebe Utopie, wenn der arabisch-israelische Konflikt im Zeichen europäischer Unterstützung für die israelische Siedlungspolitik und Repression weiter bestünde und der Westen – mit Europa als grundlegendem Bestandteil – durch die Unfähigkeit, das palästinensische Volk zu schützen, zum Mittäter würde.
Uneinheitliche EU-Außenpolitik
Im Zeichen der aktuellen Situation innerhalb der EU lässt sich über mögliche Effekte eines türkischen Beitritts zur Union nicht ohne Berücksichtigung der Außen- und Verteidigungspolitik der EU sprechen. Momentan betreibt die EU keine homogene Außenpolitik; vielmehr gibt es Widerstreit zwischen der Politik der einzelnen Mitgliedsstaaten.
Der uneinheitliche Standpunkt gegenüber der Türkei oder der amerikanischen Besetzung des Irak ist dafür ein klarer Beleg. Bis jetzt sehen die Araber und die Muslime die EU in außenpolitischer Hinsicht als eine Vielzahl von Staaten – und nicht als einen Block. Und dies begrenzt logischerweise die Möglichkeiten einer europäischen Annäherung an die Türkei.
Zu den Bedingungen einer positiven Interaktion zwischen Europa und der Türkei als Mitgliedsstaat einerseits und der arabisch-islamischen Welt andererseits gehört eine angenommene einheitliche Außen- und Verteidigungspolitik, die nicht gegen die Interessen der Araber und der Muslime gerichtet ist. Sonst wäre eine Mitgliedschaft der Türkei sogar schädlicher als eine Nicht-Mitgliedschaft.
Verworrene Beziehungen
Die Aspekte der Beziehungen zwischen der Türkei und der arabischen Welt sowie der Türkei und der EU sind vielschichtig und für die Zukunft nicht voraussagbar, solange die Situation der Türkei und der EU so verworren bleibt.
Auch lässt sich ein weiterer grundlegender Faktor nicht ignorieren, nämlich die Politik der Vereinigten Staaten in Bezug auf die internationalen Beziehungen, den Nahen Osten, die Türkei und Europa.
Die wechselhaften türkisch-europäischen Beziehungen seit 1963 spiegeln auch die Tatsache wider, dass dieses Verhältnis nicht nur bilateral bestimmt war.
Die Beziehungen zwischen der Türkei, Europa und islamischer Welt sind verworren und zuweilen brüchig, so dass es nicht möglich ist, genau vorherzusagen, welches Bild sich letztendlich bieten wird.
Muhammad Noureddine
Übersetzung aus dem Arabischen von Günther Orth
© Qantara.de 2007
Muhammad Noureddine ist Chefredakteur der libanesischen Zeitschrift "Schu'un al-Aussat", die politische Themen im Nahen Osten behandelt. Er ist ferner wissenschaftlicher Berater des "Zentrums für strategische Studien, Forschung und Dokumentation" in Beirut.
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