Die Reform, das bin ich!
Die Themen, die nun im Zuge der Verfassungsreform in Marokko diskutiert werden, sind nicht neu. Seit der Machtübergabe an Mohammed VI. im Jahr 1999 gibt es eine öffentliche Debatte, über die nationale Identität des Landes, über die Heiligkeit seiner Person sowie Forderungen, die Machtfülle des Staatsoberhauptes einzuschränken.
Schon 2001 hatte Mohammed VI. in einer Thronrede Sprache und Kultur der Berber als zentrales Element der nationalen Identität bezeichnet. Dies war ein wichtiger Erfolg der marokkanischen Berberbewegung.
Im Vergleich zum Nachbarland Algerien, aber auch anderen arabischen Staaten, die ethnische Bevölkerungsgruppen marginalisieren, konnte man diese Rede durchaus als Beginn einer kulturellen Revolution bezeichnen.
Anerkennung der Berberkultur
Die darauf folgende Gründung eines Königlichen Instituts für Berberkultur 2002, die zunehmende Vielfalt von Medien in einem der drei Berberdialekte sowie die Einführung von Sprachunterricht an marokkanischen Schulen waren weitere Schritte auf dem Weg zur Verfassungsreform von 2011.
Die Anerkennung von Tamazight als zweiter Amtssprache des Landes neben dem Arabischen durch die nun bevorstehende Verfassungsreform ist eine folgerichtige Maßnahme, die gesellschaftliche Pluralität des Landes anzuerkennen. Rund 40 Prozent der Bevölkerung sind Berber.
Aber nicht nur sie hat Mohammed VI. im Blick. Von Anfang an hat er immer wieder auf die Pluralität der Gesellschaft und damit auf ihre arabischen, sub-saharischen, afrikanischen, andalusischen sowie berberischen Ursprünge Bezug genommen. Im Kontext der üblichen Einheitsdiskurse in der Region war dies außergewöhnlich.
Auch die Frage, wie heilig die Monarchie noch sei, wird seit seiner Amtsübernahme öffentlich diskutiert. Zwei Wochen vor den Anschlägen in Casablanca 2003 titelte die oppositionelle Wochenzeitschrift Le Journal hebdomadaire "Le sacré contre la démocratie?".
Die Anschläge verschärften diese Diskussion noch, denn sie stellten die Monarchie unter Führung eines offensichtlich sehr weltlichen "Greenhorns" für viele konservative Bürger in Frage.
Aufarbeitung der "bleiernen Jahre" unter Hassan II.
'Die Reform, das bin ich!' so lautet die Antwort Mohammed VI. darauf. Seit seinem Amtsantritt 1999 spricht er von Rechtsstaat, Dezentralisierung, persönlichen Freiheiten, politischer Teilhabe und einem neuem Konzept von Autorität. Er unterstützte und übernahm eine Reihe gesellschaftspolitischer Forderungen. Dies gilt unter anderem für die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen unter seinem Vater, die Änderung des Familienrechts 2004 oder die Transparenz von Wahlen.
Dies hat dem König viele Anhänger insbesondere unter jungen Erwachsenen beschert. Mohammed VI. hat jedoch sichergestellt, dass die Reformen seine Machtfülle nicht einschränkten. Im Gegenteil, seine Reformpolitik marginalisierte Parlament und Parteien, da er immer wieder außerhalb der verfassungsrechtlichen Institutionen agierte. Nun muss der König auf Druck der Öffentlichkeit die Frage nach seiner eigenen Stellung im Machtgefüge beantworten.
Das Land kann auch Erfolge bei Alphabetisierung und Elektrifizierung vorweisen. Armutsbekämpfung gehört zu den Prioritäten der Politik. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die sozialen Disparitäten zwischen arm und reich sowie Stadt und Land nicht mindestens ebenso gravierend sind, wie in Ägypten oder Tunesien.
Auch der überdimensionierte Sicherheitsapparat erinnert an die arabischen Bruderstaaten. Die Demonstrationen in Casablanca von Oppositionellen, denen die Reformen der letzten Jahre nicht weit genug gingen, und Anhängern der Monarchie spiegeln die weit fortgeschrittene gesellschaftliche Debatte Marokkos wider - ohne bezahlte Schergen oder Provokateure.
Alle Macht dem König
Laut Verfassung ist Marokko schon seit 1962 eine konstitutionelle, demokratische und soziale Monarchie. Doch trotz des liberalen Verfassungsmodells ist der König niemanden rechenschaftspflichtig. Die Entscheidungsmacht liegt letztendlich allein bei ihm.
Da er an erster Stelle dem höheren islamischen Prinzip verantwortlich ist und nicht den weltlichen Institutionen des Staates, steht er über der Verfassung. Zwar wird 2011 die Stellung des Premierministers gestärkt, aber von checks and balances kann noch keine Rede sein. Die Vorrechte des Königs werden nicht angetastet. Rechenschaftspflicht und gegenseitige Kontrolle der Verfassungsorgane werden noch immer nicht eingeführt.
Nach den Verfassungsänderungen von 2011 ist der Monarch nicht mehr "heilig", aber weiterhin "unantastbar". Man mag dies auf den ersten Blick als Wortklauberei verstehen. Aber es ist ein kaum zu unterschätzender Schritt, wenn der König seinen Status als geistliches Oberhaupt in Frage stellt. Für viele Menschen ist der König vollkommen. Dieser Vorstellung wird nun erstmal per Dekret abgeschafft.
Sonja Hegasy
© Qantara.de 2011
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de