Wir gegen sie

Wenn identitäre Konflikte im Westen und in der islamischen Welt nur lange genug beschworen werden, dann gibt es sie irgendwann auch. Anatomie einer Kriegspsychose.

Von Robert Misik

Es riecht nach Krieg. Zumindest bekommt man langsam eine Ahnung davon, wie das in früheren Zeiten einmal gewesen sein muss. Wie sich plötzlich gegenüberstanden: Wir gegen sie. Wie ganze Völker an einen Punkt gelangten, dass sie meinten, ihr "Sein" stünde auf den Spiel, weil die "seinsmäßig Anderen" sie bedrohten. Später beschreibt man solches mit Formeln wie "Kriegspsychose", auch die Wendung "kollektiven Pathologie" ist beliebt.

Es nistet sich wieder ein: "Wir" und "sie". "Wir" und die Moslems. Oder, andersrum: "Wir" und der Westen. "Wir" gegen ... Gewiss, heute ist alles komplizierter. Karikaturen in einem dänischen Provinzblatt führen in Gaza und Lahore zu gewalttätigen Demonstrationen.

Paradoxe Allianzen

Wenn ein irrer italienischer Lega-Nord-Minister in Rom im Fernsehen auftritt, gibt es in Tripolis Tote. Wenn die Hamas in Palästina Wahlen gewinnt, richten sich auf den Bart- und Djellabaträger im Baumarkt in Wien-Favoriten skeptische Blicke. Antiwestliche Filme, in der Türkei produziert, werden in Berlin-Neuköln zum Kassenschlager.

Das konfrontative Arrangement hat einen Sog, der auch die "Normalen" auf beiden Seiten verschluckt. Im Karikaturenstreit liefen viele muslimische Fromme auf das Feld, das die Extremisten bestellt hatten, und in westlichen linksliberalen Kreisen gehört es längst zum guten Ton, zu bekunden, "wir" müssten unsere Werte, unsere zivilisatorischen Errungenschaften gegen "sie" verteidigen.

Die Argumente, die vorgebracht werden, gehen die fröhlichsten Mischungen ein. Auf der einen Seite vermengen sich die Demütigungsgefühle der muslimischen Welt im Allgemeinen, der als Bürger zweiter Klasse gehaltenen Migrantencommunities im Besonderen mit dem antiwestlichen Furor der Fundamentalisten. Auf der anderen Seite der liberale Freiheitsdiskurs von Menschenrechten und Meinungsfreiheit mit dem arroganten Herrenreitergestus westlicher Überlegenheitsrhetorik.

Dass die westliche aufgeklärte Toleranz und Liberalität ihre Grenzen haben muss, wenn sie selbst bedroht ist, ist die Losung der Stunde – sie klingt auch gar nicht schlecht, und doch schlägt sich die Liberalität, die zugleich bekundet und dementiert wird, auffallend mit dem schneidigen Ton, in dem die Parole vorgebracht wird. Aber vielleicht ist das gerade die Eigenart solcher kollektiver Pathologien, dass die besten Motive an die übelsten Denkarten anschlussfähig werden.

Angstlust auf beiden Seiten

Jede Seite hat ihre Wahrheit, und das Unangenehme an ihr ist, dass sie meist nicht einmal falsch ist. Im ägyptischen Wochenblatt al-Ahram-Weekly proklamiert Ayman El-Amir, dass "die antiarabischen, antimuslimischen Vorurteile Teil der westlichen Kultur geworden" seien. "Die Masse der Frommen", dröhnt der Gewaltforscher Wolfgang Sofsky in der Welt wie zur Bestätigung, "will ihrer ungläubigen Todfeinde habhaft werden, will sie schächten und verbrennen."

Schon ist in Kreisen amerikanischer Strategieplaner vom "vierten Weltkrieg" die Rede (der Kalte Krieg wird als dritter verbucht). In der Zeit warnt Jens Jessen den Westen davor, "sich von der Hysterie des Gegners anstecken zu lassen". Er rät gewissermaßen, von der Front des "Kampfes der Kulturen" zu desertieren, nur um ein paar Sätze weiter den Westen das "bei weitem überlegene gesellschaftliche System" zu nennen.

Aber kann man einen solchen Satz noch formulieren, ohne sich in diesem Kampf zu positionieren? Was ist das alles? Verwirrung? Ein Sturm, der im Kopf eines jedem tobt?

Auch zwischen den Stühlen sitzt es sich schlecht, wenn liberales Freiheitspathos hart an antiislamische Hetze schrammt – und gleichzeitig mit antirassistischer oder antiimperialistischer Rhetorik nicht selten auch religiös-totalitärer Wahn verniedlicht wird.

In den Köpfen der Muslime nistet sich das Ressentiment gegen den Westen ein. Und in den Köpfen der Westler grassiert der Generalverdacht gegen die Muslime. Man blickt plötzlich anders auf den Türkenbuben am Fußballplatz. Die Welt wird sortiert. Die kulturelle Überlegenheitsrhetorik ist, wie je, Ausdruck von Ohnmachts- und Bedrohungsphantasien. Angstlust herrscht auf beiden Seiten. Der Attacke geht die Panikattacke voraus.

Sich selbst erfüllende Prophezeiungen

Wenn sich Identitäten bedroht fühlen, dann hat der Irrsinn seine schönste Zeit. Ist er das nun also, der Kampf der Kulturen, den der US-Politologe Samuel Huntington schon vor 13 Jahren vorhergesagt hat? Die großen Weltkulturen, schrieb Huntington, seien die stabilen Elemente des Weltsystems.

Aber sie durchdringen sich auch, "denn auf der Welt wird es enger". Und mit der Hegemonie der westlichen Kultur nimmt das antiwestliche kulturelle Bewusstsein der nicht-westlichen Zivilisationen zu. In einem solchen Arrangement der Identitätsstiftung nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, dass Menschen "die Verhältnisse in Begriffen von ´wir` versus ´sie` deuten".

Gerade die Verwandlung des "real existierenden" Islam, dieses Puzzles aus koranischer Überlieferung und lokaler Lebensarten, zu einem vereinheitlichten, puristischen, globalen Protest-Islam brauchte die Aufnahme von Einflüssen der westlichen Kultur, verdoppelte in gewissem Sinn sogar deren Homogenisierungstendenzen.

So gesehen ist die Re-Islamisierung ebenso "künstlich" wie die westliche Konsumkultur. Nur: Das macht aber Huntingtons Diagnose nicht falsch. Wenn jemand sich nur lange genug einbildet, eine bestimmte Identität zu haben, hat er sie am Ende eben auch.

"Mit den Augen des Anderen sehen lernen"

Die Eigenart des identitären Diskurses ist, dass er Menschen unter Absehung ihrer konkreten, individuellen Eigenschaften in einander gegenüberstehende, im besten Falle nebeneinander her lebende Lager treibt. Er trübt den Blick. Der Westen dementiert, überhaupt eine Kultur zu sein - er behauptet sich als Norm, Kultur haben die anderen, die von der Norm abweichen -, und wenn er von der "Kultur" der anderen spricht, schwingt das Wort "rückständig" unterschwellig mit.

Man begegnet ihnen mit jener Art von Respekt, die von Herablassung manchmal schwer zu unterscheiden ist. Der Multikulturalist hält das Recht der Einwanderercommunities hoch, nach ihrer Tradition zu leben (er würde das auch bei bunt bemalten Ureinwohnern abgelegener Südseeinseln so halten), der militante Liberale fordert, dass "sie" wie "wir" werden.

Identitäre Diskurse haben immer ein Aggressionspotential. "Identity goes to war", titelt die jüngste Ausgabe des US-Magazins The New Republic, in der der Ökonomienobelpreisträger Amartya Sen sich dafür stark macht, endlich mehr Bedacht auf die Multiplizität von Identitäten zu legen.

Das heißt auch, die eigene Rhetorik darauf zu überprüfen, ob sie dazu beiträgt, eine Konstellation des Kulturkonfliktes zu mildern oder im Gegenteil zu verschärfen. Die Aufgabe: Mit den Augen der Anderen sehen lernen. Menschenrechte, Meinungsfreiheit, Freiheitsrechte verteidigen? Aber ja! Aber immer darauf achten, dass das eigene Tun nicht das Gegenteil von dem bewirkt, was es zu bezwecken vorgibt.

Robert Misik

© Qantara.de 2006

Robert Misik lebt als freier Publizist in Wien und Berlin und war unter anderem Redakteur der österreichischen Magazine "Profil" und "Format". Zuletzt erschien im Aufbau-Verlag seine Studie "Genial dagegen", die sich mit dem kritischen Denken von Marx bis Michael Moore auseinandersetzt.

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