Im Kreislauf der Gewalt
Obwohl Hassans Roman bereits schon vor Beginn der Erhebung gegen das Assad-Regime erschienen ist, zeigt es auf eindringliche Weise, was Menschen erleiden müssen, die in das Räderwerk staatlicher Repressionen geraten, zu langen Haftstrafen verurteilt werden oder als Asylsuchende sich in die Obhut einer Botschaft flüchten, mit der vagen Hoffnung auf Freiheit und Neuanfang.
Die aus Damaskus stammende Autorin hat eine Erzählperspektive gewählt, durch die das Elend der Verfolgten und Unterdrückten hautnah erlebbar wird: Anat arbeitet als Dolmetscherin in der kanadischen Botschaft in Damaskus. Täglich muss sie die Berichte von Asylbewerbern übersetzen, die als politisch Verfolgte aus Afrika und anderen, von Bürgerkriegen betroffenen Regionen sich in die Botschaft geflüchtet haben und dort ihre traumatischen Erlebnisse zu Protokoll geben.
Anat gehen diese Schicksale sehr nah, die Betroffenen berichten von Folter, Misshandlungen, Tötung ihrer Angehörigen und tragen oft selbst die Zeichen physisch und seelisch Verwundeter. Anat, die schwanger ist, erträgt das Ausmaß der Beschädigungen irgendwann nicht mehr und kündigt schließlich ihren Job.
Im Verließ des Assad-Regimes
Dem Kreislauf aus Terror und Gewalt kann sie allerdings nicht entkommen. Ihr Verlobter, mit dem sie nur wenige Wochen zusammen war, bevor er als linker Aktivist bei einer Polizeiaktion verhaftet wurde, ist zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Eine wahrlich drakonische Strafe für das Verteilen illegaler, linker Flugblätter.
Anat und er schreiben sich Liebesbriefe, die sie auf heimlichen Wegen vorbei an den Kontrollen an die jeweiligen Bestimmungsorte befördern. Doch jede abenteuerlich-romantische Anmutung eines solchen Liebesverhältnisses fegt die Erzählerin souverän beiseite. Zwar verzehrt sich Anat in Sehnsucht nach ihrem Verlobten, ihre Liebe zu ihm ist so lebendig wie zu Beginn, doch daneben geht sie auch Beziehungen zu anderen Männern ein und macht ihre sexuellen Erfahrungen, die im Roman offen und dezidiert beschrieben werden.
Der Roman entwirft ein realistisches, nüchternes Gesamtbild einer neun Monate umfassenden Leidenszeit – die Zeit von Anats Schwangerschaft. Es ist eine Zeit des Wartens, Hoffens und Bangens, die sie mit anderen Freundinnen teilt, die wie sie auf ihre inhaftierten Männer warten. Die allein gelassenen Frauen diskutieren die Frage, ob sich das lange Warten für sie lohnt oder ob sie sich nicht besser um ihre eigene Zukunft kümmern sollten.
Anat spricht die durchaus berechtigte Forderung aus, bei all dem sichtbaren Leid ihrer Männer und der zahllosen Asylbewerber nicht ihre eigenen "seelischen Verletzungen" zu übersehen: "Eine abgehauene Hand oder ein verbrannter Körperteil gewährleisten, dass der Asylant sofort seiner Hölle entkommt, während wir uns um eine ganz und gar verkohlte und im innersten zerschundene Seele nicht kümmern können."
Die Macht des Wandels
Tatsächlich gibt es nach Ablauf der langen Wartezeit und der ersehnten Rückkehr ihrer Männer im Roman kein Happy End. Zu viel Zeit ist vergangen, um dort weiterzumachen, wo man vor der Trennung abrupt geendet hat. Die Männer sind nicht mehr dieselben, sie leiden an Schuldgefühlen und haben sich äußerlich und innerlich verändert.
Eindringlich und anhand vieler Alltagsbeispiele beschreibt die Erzählerin die generelle Macht des Wandels, dem jeder Mensch unterworfen ist – was erstaunlicherweise nicht immer zum Schaden für die Betroffenen ausschlagen muss, wie der Roman zeigt. So hat sich Anats Freundin während ihrer Wartezeit mit fernöstlicher Philosophie beschäftigt, sie kocht nun probiotisch und findet im ganzheitlichen Denken und den Vorbildern ihrer esoterischen Lehrmeister einen neuen Halt. Anat selbst will dem Drängen ihres Verlobten, Syrien zu verlassen und in Schweden einen Neuanfang zu starten, nicht folgen – zumindest nicht vor der Geburt ihres Kindes.
Neben den genannten Personen werden im Roman noch weitere Lebensschicksale erzählt: Anats Vater Hassan, ein pensionierter Lehrer, mit dem Anat zusammenlebt, verbringt sein Leben scheinbar stumpfsinnig zu Hause und lenkt sich meistens durch Pornofilme im Fernsehen ab.
Doch auch er besitzt eine widerständige Seite. Früher arbeitete er als Lehrer, bis er für sechs Monate ins Gefängnis musste (weil er seinen Schulleiter geohrfeigt hatte), nun geht er einer literarischen Beschäftigung nach und verfasst leidenschaftliche Liebesgedichte – bis er eines Tages seine vor 40 Jahren gestorbene Geliebte wieder gefunden glaubt: eine junge Spanierin, die er im Internet kennen gelernt hat und die sich bei einem Besuch Granadas ihrer eigenen arabisch-maurischen Wurzeln bewusst geworden ist. In ihr erblickt Hassan quasi seine wiedergeborene einstige Geliebte. Die junge Frau interessiert sich für Hassan, kommt ihn besuchen und es entwickelt sich eine ungewöhnliche Liebesepisode.
Fanal gegen Depression und Fatalismus
Der Roman vermittelt vor allem ein sympathisches Selbstbewusstsein seiner Protagonistinnen. So ist es nicht verwunderlich, wenn man erfährt, dass die Autorin neben ihrer Tätigkeit als Literaturjournalistin für syrische und arabische Zeitungen auch aktiv in der Frauenbewegung ist und den Verein "Frauen für Demokratie" in Damaskus mitgegründet hat. Außerdem berichtet sie regelmäßig im Internet über den Alltag der Menschen in Syrien.
"Wächter der Lüfte" ist ihre vierte Buchveröffentlichung, der Roman ist 2012 in französischer Übersetzung erschienen. Dem Alawi-Verlag ist es zu danken, dass dieses aufrührende, ergreifende und klug geschriebene Buch nun in deutscher Sprache erschienen ist.
Der souverän konstruierte und ausgezeichnet übersetzte Text lässt hoffen, dass auch in Zeiten, die von Krieg und Gewalt beherrscht sind, Menschen ihren Weg finden können, ohne in Depression und mutlosen Fatalismus zu versinken.
Volker Kaminski
© Qantara.de 2014
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de
Rosa Yassin Hassan: "Wächter der Lüfte", Roman aus dem Arabischen von Stephan Milich und Christine Battermann, Alawi Verlag, Köln 2013, 342 Seiten, ISBN 978-3-941822-10-8