Zähes Ringen mit den Taliban
Die sechsjährige Hossai und die zwölfjährige Shamila sitzen in der Ecke eines einfachen Lehmhauses in der Provinz Maidan Wardak im Osten Afghanistans und spielen still an ihren bunten Schals herum. Währenddessen erzählen die Männer ihres Dorfes von einem US-Drohnenangriff in der Nähe, bei dem ein LKW-Fahrer getötet wurde, als dieser mit Wassermelonen unterwegs war.
Seit Jahren leidet die Provinz unter den Gewaltexzessen von allen Seiten. Die bewaffneten Gruppen – darunter die Taliban und der extremistische Arm des Hezb-e Islami, der bis 2016 zweitgrößten bewaffneten Oppositionsbewegung, – kontrollieren seit langem die 40 Minuten südlich von Kabul gelegene Provinz.
Weniger als einen Kilometer von dem Haus entfernt liegt ein Friedhof, wo die weißen Fahnen der Taliban über den Gräbern wehen und die dort begrabenen Männer für ihren Kampf gegen die ausländischen Besatzer preisen.
Im Jahr 2013 befahl der damalige Präsident Hamid Karzai den Rückzug der US-Spezialeinheiten aus der Provinz, nachdem diesen vorgeworfen wurde, Bewohner zu misshandeln, zu entführen oder gar zu töten.
Die beiden Mädchen gehen seit mehr als zwei Jahren nicht mehr zur Schule. Auch dies ist der Gewalt geschuldet, von der die 570.000 Einwohner der Provinz heimgesucht werden. Die Mädchen erzählen, dass sie von ihren Familien zu Hause unterrichtet werden. Doch sie wissen auch, dass ihre Schule wieder öffnen muss, wenn sich ihre Träume von einer Karriere als Lehrerin oder Ärztin erfüllen sollen. Sie wollen ihre Muttersprache Paschto lernen, ebenso wie Dari, die andere Amtssprache Afghanistans, außerdem Mathematik und den Koran. Doch angesichts der zunehmenden Gewalt im Land sind die Aussichten eher düster.
"Die Taliban haben den Zugang zu unserer Schule gesperrt", sagen die Mädchen und schauen dabei zu Boden. Das bestätigen auch die im Raum anwesenden Männer, von denen einige mit den örtlichen Talibangruppen in Kontakt stehen.
Millionen von Bildung ausgeschlossen
Doch Shamila und Hossai sind längst nicht die einzigen. In ganz Afghanistan sind Millionen von Schülerinnen wegen der anhaltenden Konflikte ohne Schulbildung. Laut einer Untersuchung der Europäischen Union und des zentralen afghanischen Statistikamtes kommen derzeit nur 21,7 Prozent der Mädchen und Frauen in den Genuss von Bildung. Doch auch bei Jungen und Männern ist das Bild gleichermaßen entmutigend: Hier sind es ganze 45,9 Prozent.
Die Untersuchung bezeichnet die niedrige Bildungsteilhabe für beide Geschlechter als "Indikator für verlorenes Humankapital einer Generation, die die nahe Zukunft des Landes prägen wird". Das Bildungsministerium malt ein ebenso düsteres Bild.
Im vergangenen Januar erklärte der amtierende Minister für Bildung, Asadullah Mohaqiq, die unsichere Lage habe landesweit zur Schließung von mehr als 1.000 Schulen geführt. An das Oberhaus des Parlaments gerichtet verwies Mohaqiq auf eine jüngste Untersuchung des Bildungsministeriums, nach der lediglich sechs Millionen afghanische Kinder die Schule besuchen. Ein beträchtlicher Rückgang gegenüber elf Millionen, die die Regierung des ehemaligen Präsidenten Hamid Karzai nannte.
Heather Barr, leitende Forscherin für Frauenrechte bei Human Rights Watch, sieht in der Sicherheitslage einen "wichtigen Faktor" für die schulische Bildung von Mädchen in Afghanistan.
"Wenn sich die Sicherheit in einem Gebiet verschlechtert, halten die Eltern zunächst die Mädchen, nicht jedoch die Jungen vom Schulbesuch ab", sagte Barr, die gerade zu einem Bericht über den Bildungszugang von Mädchen in Afghanistan forscht.
Verhandeln mit den Taliban
Dies ist genau das Problem, das Ali Wardak, ein 28-jähriger US-Afghane, dessen Familie aus Sayed Abad im Nordosten Afghanistans stammt, durch direkte Verhandlungen mit den Taliban lösen will. Im letzten Monat unternahm Wardak mehrere Reisen von seinem Büro in Kabul in die Distrikte Sayed Abad und Sheikh Abad mit dem Ziel, die Taliban davon zu überzeugen, die Mädchenschulen in den von ihnen kontrollierten Gebieten wieder zu öffnen. Die Zusammenkünfte verliefen besser als erwartet.
Letzten Monat traf er in einem bescheidenen Lehmhaus in Sheikh Abad auf einen Vertreter aus dem Führungsrat der Gruppe (mit Sitz in Quetta, Pakistan). Die Antwort des Talibanvertreters Qari Yusuf überraschte ihn:
"Das Emirat sieht kein Problem in der schulischen Ausbildung von Mädchen oder Jungen", versicherte Yusuf. Die Gruppe bezeichnet sich selbst vorzugsweise als Emirat. Der sogenannte Quetta Shura, also der Führungsrat der Taliban, denkt offenbar tatsächlich darüber nach, Mädchen den Schulbesuch bis mindestens zur sechsten Klasse zu gestatten.
Allerdings verwies Yusuf noch auf eine weitere Hürde, die der Vereinbarung bislang im Weg stehe: "Es gibt Leute und Gruppen, die die Taliban in ein schlechtes Licht rücken möchten und behaupten, wir seien gegen Mädchenbildung." Dies habe laut Yusuf dazu geführt, dass örtliche Taliban-Führer weiterhin glaubten, die Talibanführung sei noch immer gegen Mädchenbildung.
"Damit ist wohl der ISI gemeint", erwiderte Wardak und verwies damit auf den pakistanischen Militärgeheimdienst, der von Afghanistan seit langem beschuldigt wird, die Taliban zu unterstützen. Sein Gesprächspartner stimmte dem zu. Dass der IS die Taliban diffamiere und verleumde, ist ein vielsagendes Eingeständnis einer Gruppe, die oft als "Marionette" des pakistanischen Militärgeheimdienstes bezeichnet wird.
Religiöse Begründung für Mädchenbildung
Wardak will die Gunst der Stunde nutzen und Yusuf sowie allen, die eine Schulbildung von Mädchen bislang ablehnen, religiöse Argumentationshilfen an die Hand geben, die das Recht von Mädchen auf Schulbildung begründen. Trotz des ermutigenden kurzen Gesprächs weiß Wardak durchaus, dass noch ein langer Weg bevorsteht. "Dies ist sicherlich nur ein erster Schritt", räumt er denn auch ein.
Im Unterschied zu Wardak betrachten andere die Rhetorik und Ankündigungen der Taliban weitaus skeptischer. Das Problem, so Heather Barr von Human Rights Watch, liege in der Einlösung der Versprechen.
"Es ist durchaus nicht sicher, ob sie ihre Kommandanten vor Ort tatsächlich anweisen werden, Mädchen den Schulbesuch zu erlauben. Unsere Forschungsergebnisse zeigen, dass Talibanführer in einigen Gebieten sämtliche Schulen schließen ließen, während in anderen Gebieten Mädchen weiter zur Schule gehen konnten."
Aus gut informierten Kreisen, die mit den inneren Abläufen der Taliban insbesondere in der Provinz Maidan Wardak vertraut sind, weiß man inzwischen, dass sich die Gruppe mittlerweile zwar nicht mehr gegen die Mädchenbildung stellt, diese Thematik jedoch für sie keine "Priorität" hat.
"Abgesehen von einer positiven internationalen Presse haben die Taliban nicht viel zu gewinnen, wenn sie Mädchen den Schulbesuch gestatten."
Dieselben Kreise weisen darauf hin, dass die „stark fragmentierten" Taliban, und hier vor allem die in Pakistan ansässigen Gruppen, nicht bereit sind, sich eines Themas anzunehmen, das womöglich den Widerstand der Kommandanten vor Ort auslösen könnte. Und dennoch bleibt Wardak optimistisch, diesen Verhandlungsprozess doch noch zu einem guten Ende zu führen.
Ali M. Latifi
© Qantara.de 2017
Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers