Europas gefährliche Ägyptenpolitik

Der Mord an Giulio Regeni bleibt ebenso wie die zahlreichen anderen Menschenrechtsverletzungen des Sisi-Regimes ungesühnt. Europäische Regierungen setzen auf Stabilität, haben jedoch immer weniger Einblick in die tatsächliche Entwicklung Ägyptens, meinen Lars Brozus und Stephan Roll.

Von Stephan Roll und Lars Brozus

Am 3. Februar 2016 wurde die verstümmelte Leiche Giulio Regenis am Stadtrand von Kairo aufgefunden. Der italienische Wissenschaftler forschte in Ägypten zur Entwicklung unabhängiger Gewerkschaften. Damit geriet er ins Visier der Sicherheitsbehörden, die jede Form unkontrollierter zivilgesellschaftlicher Organisation im Land als potenzielle Opposition fürchten und bekämpfen.

Seine Spur verlor sich am Abend des 25. Januar 2016, dem fünften Jahrestag des Beginns des Volksaufstands gegen das Mubarak-Regime, als Kairo von Sicherheitskräften wimmelte. Zahlreiche Zeugenaussagen und Indizien deuten darauf hin, dass Regeni von ägyptischen Sicherheitskräften über Tage gefoltert und unmenschlichen Qualen ausgesetzt wurde. Obwohl die italienische Staatsanwaltschaft in akribischer Kleinstarbeit vier hochrangige Mitarbeiter des ägyptischen Sicherheitsapparats als Hauptverantwortliche identifizieren konnte, weigern sich die Behörden in Kairo beharrlich, Strafverfahren einzuleiten.

Europäer setzen auf Aufwertung statt auf Aufklärung

Infolge des Mordes haben europäische Regierungen und Parlamente immer wieder Aufklärung gefordert. Auch die Bundesregierung, der selbst geheimdienstliche Informationen über den Fall vorliegen, hat in zahlreichen bilateralen Gesprächen Regenis Schicksal angesprochen. Tatsächliche Konsequenzen für die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu dem bevölkerungsreichsten Land in ihrer südlichen Nachbarschaft zogen die Europäer nicht.

Dabei ist der Foltermord an Giulio Regeni kein Einzelfall. Seitdem 2013 das Militär unter Führung des damaligen Verteidigungsministers Abdel Fattah al-Sisi putschte, hat sich die Situation für die ägyptische Zivilgesellschaft dramatisch verschlechtert. Internationale Beobachter sprechen von bis zu 60 000 politischen Gefangenen in den völlig überfüllten ägyptischen Haftanstalten. Lokale Menschenrechtsaktivisten berichten von weitreichender und systematischer Anwendung von Folter auf Polizeistationen.

Laut Human Rights Watch gehört Ägypten zu den zehn Staaten, in denen die Todesstrafe am häufigsten verhängt und ausgeführt wird. Gemäß Reporter ohne Grenzen ist Ägypten unter Präsident Sisi eines der Länder mit den meisten inhaftierten Journalisten.

 

"Die europäischen Regierungen tragen Verantwortung für die Menschenrechtslage in #Ägypten." @KenRoth zum Staatsbesuch von Präsident Sisi in #Frankreich. https://t.co/4VVvacnJ2B

— Human Rights Watch (@hrw_de) December 7, 2020

 

Anstatt aber Ägyptens Führung hierfür in die politische Verantwortung zu nehmen, haben die Europäer sie in den vergangenen Jahren sukzessive aufgewertet. Seit Regenis Tod kam es zu zahlreichen hochrangigen Staatsbesuchen. Bilaterale Entwicklungskredite und nicht zuletzt die großzügige Unterstützung eines umfangreichen IWF-Abkommens hat man ohne politische Konditionen gewährt. Besonders bemerkenswert: Auch Waffenexporte werden im großen Stil fortgesetzt. Nicht nur für Deutschland und Frankreich ist Ägypten eines der wichtigsten Empfängerländer. Selbst Italien beliefert das Land weiter mit Rüstungsgütern.

Eine Politik mit unabsehbaren Folgen

Die Europäer begründen diese Politik mit der Notwendigkeit der Stabilisierung des Landes. Sie befürchten eine Entwicklung wie in Libyen oder Syrien, die mit massiver Gewalt, Terrorismus und irregulärer Migration einhergehen könnte. Oberflächlich betrachtet scheint diese Rechnung aufzugehen: Ägypten hat die Seegrenze des Landes hermetisch abgeriegelt und verhindert damit die Flucht über das Mittelmeer. Europäische Unternehmen wie der deutsche Siemens-Konzern profitieren von lukrativen Geschäftsabschlüssen im Zusammenhang mit großangelegten Infrastrukturprojekten. Und für die europäischen Waffenschmieden stellt die Aufrüstung des Militärregimes eine willkommene Konjunkturspritze dar.

 

 

Die Vorstellung, Menschenrechtsverletzungen seien der Preis für eine Entwicklungsdiktatur, die Ägypten Stabilität und Wohlstand ermöglicht, hat sich jedoch bereits in der Vergangenheit als Irrglaube erwiesen. Vor zehn Jahren führten Massenproteste auf dem Tahrir-Platz im Herzen Kairos dazu, dass das autoritäre Mubarak-Regime zerbrach. Die Europäer, die den damaligen Präsidenten unterstützt hatten, mussten erkennen, dass die vermeintliche Stabilität des Landes außerordentlich brüchig war. Wird dieser Fehler heute wiederholt?

Von außen ist nicht erkennbar, dass in der Zwischenzeit entschiedene Maßnahmen ergriffen worden wären, um endlich die endemischen Probleme wie Misswirtschaft, Korruption, mangelnde Rechtsstaatlichkeit und schlechte Regierungsführung einzudämmen, die Ägypten seit langem plagen. Die wenigen verfügbaren Berichte unabhängiger Beobachter sprechen eher von zunehmender Misswirtschaft durch das Militär, steigender Armut und wachsender sozialer Ungleichheit. Hinzu kommt die Corona-Pandemie, deren wahres Ausmaß durch das Regime offenbar verschleiert wird.

Ein verlässliches Bild der Lage im Land lässt sich kaum noch gewinnen, denn mittlerweile ist es nahezu unmöglich, unabhängig aus Ägypten zu berichten oder gar vor Ort zu forschen. Die Ermordung Regenis hat einen Präzedenzfall geschaffen, der viele andere Wissenschaftler, Journalisten, zivilgesellschaftliche Organisationen oder politische Stiftungen davon abhält.

Die weitgehende Kontrolle der Informationen stellt für das Sisi-Regime eine zentrale Ressource dar, um die eigenen Interessen zu verfolgen: Gegenüber internationalen Finanzinstitutionen wie dem IWF begründet das Regime die Notwendigkeit frischer Kredite damit, dass ohne sie die Stabilität des Landes gefährdet sei. Gegenüber europäischen Regierungen kann es umgekehrt die Stabilität des Landes als regionaler Kooperationspartner hervorheben, um damit Rüstungsaufträge zu rechtfertigen.

Die scheinbare Realpolitik, die unausgesprochen den konzeptionellen Rahmen für die fortgesetzte Kooperation der europäischen Regierungen mit dem ägyptischen Regime bildet, wird damit zusehends zu einer »Irrealpolitik« – einer Politik, die auf der Grundlage der kaum verifizierbaren Angaben eines auf Zeit spielenden Regimes erfolgt, dessen Ziel die Maximierung der eigenen Überlebenschancen ist. Dafür scheint es bereit, alles zu tun, einschließlich der Ermordung eines 28-jährigen Doktoranden.

Lars Brozus und Stephan Roll

© Qantara.de 2021

Dieser Beitrag ist zuerst bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) als „Kurz gesagt“ erschienen.