Zu Fuß gehen unerwünscht

Vor zehn Monaten bekam ich die Chance, für ein dreitägiges Training in die spanische Hauptstadt Madrid zu reisen. Es war meine erste Reise ins Ausland. Einige Monate später reiste ich nach Tunesien. Nach den beiden Reisen wurde mir klar, dass ich das zu Fuß gehen gar nicht so sehr hasste, wie ich es meinem Vater gegenüber immer dann behauptete, wenn er mir empfahl, aus Geld- oder Gesundheitsgründen zu Fuß zu gehen. Es lag vielmehr an den Straßen Kairos.
Ich bin als Teil einer Familie der unteren Mittelschicht in Gamalia geboren, im historischen Kairo. Dort steht die Al-Azhar-Moschee und nur wenige Kilometer entfernt auch die historische Al-Hussein-Moschee. Zu dieser ging ich als Kind oft zu Fuß vom Haus meines Großvaters. Der Weg führte mich durch enge Straßen und Gassen, die Geborgenheit und die Weisheit einer langen Vergangenheit ausstrahlten. Wenn wir die Moschee erreichten, empfing sie uns mit einer mystischen und beruhigenden Atmosphäre.
Ich habe meinem Mann oft von diesen Spaziergängen erzählt und vor Kurzem nahm ich ihn mit, um den Weg noch einmal zu gehen. Wir verließen das Haus meines Großvaters und gingen durch dieselben Gassen, sie vermittelten mir jedoch nicht mehr diese Geborgenheit von damals.
Unzählige Fahrradfahrer im Auftrag von Lieferdiensten füllten die Straßen, ich war genervt. Sie sind durch die steigende Arbeitslosenquote immer zahlreicher geworden und nehmen langsam auch den Raum der Fußgänger:innen in Besitz. Einer von ihnen überfuhr uns beinahe auf unserem Spaziergang.

„Kairo, wie ich es kenne, ist in Gefahr“
In seinem ersten englischen Roman, „The Dissenters“, lässt Youssef Rakha die Ägyptische Revolution 2011 Revue passieren. Der Arabische Frühling sei gescheitert, sagt er, weil er eine neoliberale Bewegung ohne überzeugende Zukunftsvision gewesen sei.
Wir erreichten die Al-Hussein-Moschee. Seit einem Sanierungsprojekt, das Präsident Abel Fallah al-Sisi 2022 bekannt gab, ist sie von einem schwarzen Eisenzaun umgeben. Dem Projekt zielte mehr auf die Sicherheit als auf die Schönheit des Gebäudes, welche vorher von den Flanierenden der Gegend sehr geschätzt wurde. Der großartige Blick hinauf zur Kuppel der Moschee und auf die filigrane Architektur ist nun verstellt. Alles, was bleibt, ist ein Zaun mit Toren – geöffnet nur zur Gebetszeit.
In Omraniya, Giza, wo ich bis vor Kurzem wohnte, änderte sich das Leben mit der Eröffnung der Kamal-Amer-Brücke im März 2023. Über circa drei Kilometer teilt die Brücke das Viertel, es gibt nur zwei Fußgängerübergänge, keiner von beiden nahe an unserer Wohnung.
In der jahrelangen Bauzeit hatten wir mit Umleitungen, unberechenbarem Verkehr und langen Staus zu kämpfen. Nun, da die Brücke genutzt wird, bietet sie Autofahrer:innen vielleicht etwas Erleichterung. Doch für meine Familie und andere Anwohner:innen ist es eine Betonbarriere, die uns von ehemaligen Nachbar:innen trennt.
Viele Leute riskieren beim Überqueren der Brücke ihr Leben, anstatt den langen Umweg zum Fußgängerübergang auf sich zu nehmen. Diese Fußgänger:innen müssen dabei rücksichtslosen Tuk-Tuks ausweichen, die sie oft überfahren. Sie gehen dieses Risiko ein, um Zeit zu sparen.
Als ich einmal auf dem Heimweg aus der October Garden City über die Kamal-Amer-Brücke fuhr, sah ich die Leiche eines Mannes, der anscheinend überfahren worden war. Um ihn herum standen Beamte, die die Autos vorbeiwinkten und Anweisungen gaben, nicht anzuhalten.
Verkehrsunfälle passieren in Kairo fast täglich, die Gründe sind vielfältig: Fehlende Ampeln, schlecht beleuchtete Straßen, verantwortungsloses Fahren und fehlende Polizeikontrollen. Offiziellen Statistiken zufolge wurden im Jahr 2024 5.260 Menschen bei Verkehrsunfällen getötet und 76.000 weitere verletzt.
Heliopolis hat sich verändert
Die ägyptische Regierung investiert stark in neue Straßenzüge, der Zugang für Fußgänger:innen wird bei dieser Stadtplanung konsequent außer Acht gelassen. Das gilt sogar für höherwertige Wohngegenden wie Heliopolis, wo wohlhabendere Leute leben. Ganz zu schweigen von Arbeitervierteln wie meinem.
Eine Studie der Nada Foundation for Safe Egyptian Roads vom März 2023 mit dem Titel „Heliopolis: Fußgänger und Mobilitätsinfrastruktur“ zeigt, wie Brücken die Straßen von Heliopolis voneinander trennen. Um in ihrem eigenen Viertel von A nach B zu kommen, müssen Anwohner:innen das Auto oder öffentliche Verkehrsmittel nutzen, statt zu laufen.
Ich selbst war lange nicht in Heliopolis gewesen, für meine alte Arbeit war ich zeitweise jedoch fast täglich dort. Damals fühlte es sich an wie das Gegenteil meines Stadtteils: weitläufige offene Räume und fußgängerfreundliche Straßen. Als ich die Studie der Nada Stiftung gelesen hatte, fuhr ich die 48 Kilometer von meiner Wohnung dorthin und fand Heliopolis verändert vor, mit sehr viel mehr Verkehr und schwer zugänglich für Fußgänger:innen.
Die Studie zählt das Gehen, wie das Fahrradfahren, zu den Formen der „aktiven Fortbewegung“. Sie bringen gesundheitliche Vorteile mit sich wie niedrigere Wahrscheinlichkeit von Bluthochdruck und Übergewicht. Laut Weltgesundheitsorganisation belegt Ägypten den 18. Platz auf der Rangliste der Länder mit der prozentual höchsten Übergewichtigkeit.
Die Nada Foundation hält außerdem fest, dass 87 Prozent der täglichen Strecken im Großraum Kairo (Kairo, Giza und Qalyub) motorisiert zurückgelegt wurden, und nur 13 Prozent aktiv (Gehen oder Fahrradfahren) – bezogen auf die 2014 erhobene Zahl von 25,6 Millionen Einzelstrecken pro Tag. Meiner Meinung nach müsste sich dieser Trend noch verstärkt haben, da sowohl der öffentliche als auch der private motorisierte Verkehr gewachsen sind.

Die Studie vergleicht Ägypten mit Modellen, die Fußgänger:innen priorisieren, gefolgt von Fahrrädern, Bussen und zuletzt den privaten Autos. Trotz entsprechender Versuche wurden solche Ansätze weder in Heliopolis noch sonst wo in Ägypten umgesetzt.
Im Oktober 2022 veröffentlichte die Verwaltung in Kairo eine App, über die man Fahrräder mieten konnte. Damit sollte „grüner Transport“ in der Hauptstadt angekurbelt werden. Das Experiment sah zunächst vielversprechend aus, doch schon nach wenigen Monaten wurden die Schwächen sichtbar.
Die eigens eingerichteten Fahrradspuren wurden von motorisierten Fahrzeugen nicht eingehalten und es gab auch keine Konsequenzen. Schnell waren die Markierungen der Fahrradspuren unter den Reifen der Autos verschwunden.
Als Fahrradenthusiastin habe ich selbst die App ausprobiert und war enttäuscht. Die Fahrräder waren nicht gut gepflegt und das Fahren war angesichts der schlechten Qualität und des penetranten Verkehrs der Autos und Fußgänger:innen schwierig.
Bäume und öffentliche Räume sind bedroht
In Ägypten sind Fußgänger:innen sowohl Opfer als auch eine Ursache. Es gibt wenige Fuß- und Gehwege, wenige achten auf die Ampeln, das Ergebnis ist Chaos und häufige Unfälle.
In Madrid konnte ich über eine Stunde lang zu Fuß mehrere Kilometer zurücklegen, ohne den Ärger und die Belästigungen, die mir auf den Straßen von Kairo oft begegnen.
Die Innenstadt von Kairo mag zwar architektonische Ähnlichkeiten mit Madrid aufweisen, aber ihre Schönheit wird durch Staubschichten verdeckt. Die Straßen sind überfüllt mit Straßenhändler:innen, Leuten, die um Geld bitten, und Fotografen, die schnelle Schnappschüsse anbieten, sobald man die Qasr al-Nil-Brücke überquert.
In Madrid habe ich gesehen, wie eine Stadt Passant:innen Vorrang einräumen kann: breite, gepflasterte Gehwege – fast so breit wie die für Autos vorgesehene Fläche – mit Bänken im Abstand von wenigen Metern. Seitenstraßen waren ausschließlich für Fußgänger:innen vorgesehen und von Grünflächen und Bäumen gesäumt, die hier in Kairo gefällt werden.

Die Verschuldung treibt Ägypten in den Ruin
Für den renommierten Ökonomen Yazid Sayegh liegt die Ursache für die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise in Ägypten in erster Linie in einer Politik der übermäßigen Verschuldung. Es sei außerdem ein Fehler, wie die deutsche und die europäische Politik mit dem Al-Sisi-Regime umgehen.
Der offene Platz vor der Universität Kairo, einst ein wichtiger Treffpunkt für Familien, wurde zugunsten von Investitionsprojekten und neuen Straßen entfernt. Parks und Bäume sind Opfer einer Politik geworden, die Profit über das ökologische Gleichgewicht stellt. In einem Land, das zu 96 Prozent aus Wüste besteht, sehen wir bereits heute die Folgen.
Die Art und Weise, wie Ägypter:innen sich fortbewegen, hat sich verändert. Die Parks sind erst kleiner geworden und wurden dann durch geschlossene Einkaufszentren fast vollständig ersetzt. Bei Sommertemperaturen von durchschnittlich 38 °C und einer Luftfeuchtigkeit von über 60 Prozent ist es eine Qual, draußen zu gehen, klimatisierte Einkaufszentren bieten Linderung.
Dieser Zufluchtsort, den ich wie viele Ägypter:innen der Mittel- und Unterschicht akzeptiert habe, war einst der Oberschicht vorbehalten, die in den Geschäften internationaler Marken Zuflucht vor der harten Realität der Straßen Kairos suchten.
Dies ist eine bearbeitete Version des arabischen Originals. Aus dem Englischen übersetzt von Clara Taxis.
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