Suche nach der Nahost-Formel
Wir haben uns in den letzten Monaten an eine gefährliche Eskalation in der Region Nahost gewöhnt, die weit über Israel und den Gazastreifen hinausgeht. Gebannt blicken alle im Ramadan nach Jerusalem, um zu sehen, ob die Lage rund um die Al-Aksa-Moschee explodiert.
Die schiitische Hisbollah im Libanon liefert sich mit der israelischen Armee täglich an der libanesisch-israelischen Grenze Gefechte, um Teile der israelischen Truppen dort zu binden, damit sie nicht in Gaza zum Einsatz kommen. Und trotz einer immer größer werdenden amerikanischen und britischen Armada, und auch einem deutschen Kriegsschiff im Roten Meer, beschießen die Huthi-Rebellen aus dem Jemen fast täglich weitere Handelsschiffe.
Alle diese Ereignisse haben eines gemeinsam. Sie stehen im Zusammenhang mit dem Gaza-Krieg. Die Hisbollah und die Huthis rechtfertigen ihre Aktionen damit, dass sie Druck aufbauen wollen, um den Gaza-Krieg zu einem Ende zu bringen. Dabei bekommen sie nicht nur offenen logistische Unterstützung aus dem Iran und agieren als dessen Satelliten. Sie finden auch Zustimmung in weiten Teilen der arabischen Öffentlichkeit, gerade weil sie eine Verknüpfung mit der Palästinenserfrage herstellen. Das militärische Vorgehen der USA und anderer gegen diese Gruppen wird fast als Mittäterschaft im Gaza-Krieg interpretiert.
Eine Region in Aufruhr
Eine ganze Region befindet sich wegen dieses Krieges und dem Leiden der Bevölkerung im Gazastreifen im Aufruhr. Es ist heute klarer denn je: Ohne dass die Palästinenser mehr Rechte bekommen, wird es in der Region keine Stabilität geben.
Vorbei sind die Zeiten, als man im Westen die Hoffnung hegte, dass man die Nahostregion stabilisieren und die Palästinenserfrage dabei einfach ausklammern könnte. Man feierte die sogenannten Abraham-Abkommen, in denen die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrain, später auch Marokko und der Sudan, ihre Beziehungen zu Israel normalisierten. Sie sollten einen neuen Weg zum Frieden darstellen und die Vereinigten Staaten hofften, dass auch bald Saudi-Arabien dazustossen werde.
Man hatte die Rechnung allerdings ohne den palästinensischen Wirt gemacht und ohne die arabische öffentliche Meinung, für die die Palästinenserfrage immer noch, auch 75 Jahre nach der Gründung Israels, im Zentrum steht. Damit stellt sich nicht nur die Frage, was nach dem Krieg mit dem Gazastreifen geschehen wird, sondern auch, welche Szenarien es derzeit für die gesamte Palästinenserfrage gibt.
Denn sieben Millionen israelische Juden und sieben Millionen Palästinenser werden sich mit ihren Ansprüchen nicht in Luft auflösen. Im Wesentlichen gibt es hier vier mögliche Szenarien.
Palästinenser nach Ägypten?
Soll die gesamte Bevölkerung Gazas auf die ägyptische Sinai-Halbinsel umgesiedelt werden? So sieht es ein Strategiepapier des einflussreichen israelischen Misgav-Instituts vor. Der deutsch-israelische Ökonom Shir Hever erklärt im Interview mit Qantara.de, was es mit dem Plan auf sich hat.
Szenario 1: Erhalt des Status quo
Das erste Szenario wäre eine Fortführung des Status quo, also eine fortführende israelische Besatzung des Westjordanlands und ein weiterer Ausbau der dortigen israelischen Siedlungen.
Dazu käme eine weiteres Abriegelung des Gazastreifens mit der großen Unbekannten, wer die dortigen Ruinen und die dort lebenden 2,3 Millionen Menschen nach dem Krieg verwalten soll. Der Status quo beinhaltet auch eine fortgesetzte Ungleichbehandlung der Palästinenser, die in Israel leben und einen israelischen Pass besitzen. Sie machen mittlerweile ein Fünftel der Bevölkerung in Israel aus.
Das größte Problem der Beibehaltung des Status quo: Er war nie nachhaltig für die Palästinenser. Spätestens seit dem 7. Oktober ist auch klar, dass er auch nicht nachhaltig für die Israelis und deren Sicherheit ist.
Dazu kommt, dass der Westen seine Deutungshoheit des Konfliktes unter dem jetzigen Status quo zunehmend verliert. Das beweisen die Abstimmungen in der UNO-Hauptversammlung. 153 Länder stimmten dort zuletzt für einen Waffenstillstand im Gazastreifen, zehn dagegen, darunter Österreich. 23 Länder enthielten sich, auch Deutschland.
Selbst zwischen dem UN-Sicherheitsrat und dem Aufruf zu einem sofortigen Waffenstillstand steht nur noch das US-Veto. Das zeigt sich auch an dem von Südafrika angestrengten und vom internationalen Gerichtshof angenommen Verfahren, in dem geprüft wird, ob Israel im Gaza-Krieg den Tatbestand des Völkermordes erfüllt.
Szenario 2: Vertreibung der Palästinenser
Das zweite Szenario, das auch immer wieder von einigen Ministern im ultrarechten Kabinett des israelischen Premiers Benjamin Netanjahu offen debattiert wird, ist die Vertreibung der Palästinenser aus dem Gazastreifen. Manche Siedler diskutieren sogar in einem zweiten Schritt deren Vertreibung aus dem Westjordanland. Finanzminister Bezalel Smotrich und Itamar Ben Gvir, Minister für Nationale Sicherheit, machen keinen Hehl daraus, dass sie sich die Zukunft Gazas ohne die meisten palästinensischen Einwohner vorstellen.
Rein militärisch wäre Israel wahrscheinlich fähig, diese Art von ethnischer Säuberung durchzusetzen. Politisch ist eine solches Szenario allerdings schwer vorstellbar. Zu groß wäre der internationale Aufschrei. Selbst Israels wichtigste militärische und finanzielle Unterstützer in Washington und in einigen europäischen Hauptstädten würden in Bedrängnis geraten und müssten ihre Position überdenken.
Szenario 3: Zwei-Staaten-Lösung als Ausweg
Das bringt uns zu dritten Szenario: der Zwei-Staaten-Lösung, also einem palästinensischen Staat neben Israel. Diese Lösung wird seit zwei Jahrzehnten offiziell von der EU und den USA gefordert.
Sie ist aber zu einem europäischen und amerikanischen Lippenbekenntnis verkommen, einer Art Mantra, die den bisherigen Status quo stets begleitet hat. Dabei wollte keine Macht tatsächlich darin politisch investieren, diese Lösung gegen Netanjahu durchzusetzen. Denn der hat in seiner Regierungszeit alles darangesetzt, diese zu torpedieren.
Allem voran durch einen massiven Ausbau der nach internationalem Recht illegalen israelischen Siedlungen im Westjordanland. Seit dem Oslo-Abkommen 1993, das eigentlich in einem palästinensischen Staat münden sollte, ist die Zahl der Siedler von 264.000 auf 502.000 angestiegen.
Blickt man auf eine Karte des Westjordanlandes mit den Siedlungen, den Siedlerstraßen und den israelischen militärischen Sperrgebieten, ist kein zusammenhängendes, potentielles palästinensisches Staatsgebiet mehr erkennbar. Auch manche Palästinenser sind kritisch gegenüber einer Zwei-Staaten-Lösung. Zwar bekämen sie damit einen eigenen Staat, aber sie müssten ihre nationalen Ambitionen auf das ganze Palästina aufgeben. Sie argumentieren, dass ein solcher Staat auf gerade einmal 22 Prozent ihres ursprünglichen Territoriums gegründet würde.
Trotz vieler Widerstände und der praktischen Frage, ob es überhaupt noch ein ausreichendes Gebiet für eine überlebensfähigen palästinensischen Staat gäbe, hält man international an der Zwei-Staaten-Lösung als dem vermeintlich einzig gangbaren Weg fest.
Wirklich denkbar wäre diese Lösung allerdings nur, wenn zumindest ein Teil der israelischen Siedlungen aufgegeben würde. UN-Generalsekretär Antonio Guterres sagte dazu: "Die Zwei-Staaten-Lösung wurde verleumdet, unterminiert, und viele Male für tot erklärt. Es bleibt jedoch die einzige erreichbare, dauerhafte und gerechte Lösung für Frieden in Israel, Palästina und der Region“.
Szenario 4: "Die Republik Haifa" - Ein Staat für alle
Das vierte Szenario ist das einer Ein-Staaten-Lösung, also eines säkularen, demokratischen Staates, in dem Israelis und Palästinenser, Juden, Muslime und Christen gleichberechtigt zusammenleben. Beide Seiten müssten dafür ihre nationalen Ambitionen mit jüdischer oder palästinensischer Identität aufgeben. Es gäbe keinen palästinensischen Staat, aber gleichzeitig auch keinen exklusiv jüdischen mehr. Das wäre auch das Ende der zionistischen Idee in ihrer heutigen Umsetzung. Vorgeschlagen wird diese Idee auf beiden Seiten von einer absoluten Minderheit, meist von Persönlichkeiten aus dem akademischen Bereich.
Einer ihrer israelischen Vertreter ist der ehemalige Mitarbeiter des israelischen Inlandgeheimdienstes Shin Bet und heutige Philosophie-Professor Omri Böhm. Sei es besser, den Zionismus aufzugeben oder sollte man an einer durch die Vertreibung der Palästinenser befleckten Idee festhalten, fragt er. Er plädierte vor drei Jahren in seiner Streitschrift "Israel. Eine Utopie" dafür, die Staatlichkeit Israels neu zu denken. Statt von einer Zwei-Staaten-Lösung spricht er in seiner Utopie einer "israelisch-palästinensischen Föderation - einem Land für beide Völker“.
Auch der 2003 verstorbene prominente palästinensische Intellektuelle und Vordenker Edward Said sprach bereits vor 20 Jahren von der Möglichkeit einer Ein-Staaten-Lösung, bei der die Rechte und Pflichten geteilt würden und alle unter dem Gesetz gleich wären. Wenn alle die gleichen Rechte und Privilegien hätten, würden die Prinzipien des religiösen Chauvinismus, nationaler Ideologien und exklusiver Dogmen für immer verloren gehen, schrieb Said.
Bei der Ein-Staaten-Lösung würde sich einer der bisher grundsätzlichen Wesenszüge des israelisch-palästinensischen Konfliktes verändern. Es würde nicht mehr um einen Streit um Territorium, sondern um die grundsätzliche Frage der Gleichberechtigung zweier Völker in einem Staat gehen.
Blickt man auf alle vier Szenarien, ist klar, dass sich die ersten beiden, also das die Beibehaltung des Status quo oder die Vertreibung der Palästinenser letztendlich militärische Lösungen sind. Sie stützen sich auf die militärische Überlegenheit Israels und auf seine immer mehr schwindende internationale Unterstützung.
Die beiden anderen Optionen, die Ein- oder Zwei-Staaten-Lösung, sind politischer Natur. Sie sind die einzigen Lösungen, die mehr Gerechtigkeit schaffen würden. Denn eines hat der 7. Oktober mehr als deutlich gemacht: Ohne dass den Palästinensern in irgendeiner Form politisch ihre Rechte zugestanden werden, wird es für Israelis keine Sicherheit geben.
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