"Vom Jubel des Tahrir-Platzes ist nichts geblieben"
Herr Armbruster, Ihr Buch heißt "Mein Kairo". Es zeigt das persönliche Kairo von mehr als 60 Autoren. Wie war Ihre erste Begegnung mit Kairo – "der Mutter der Welt", wie die Araber sagen?
Jörg Armbruster: Ich bin in den 70er Jahren das erste Mal als Tourist in Kairo gewesen, um meinen Vetter zu besuchen. Er ist Archäologe und hat auch einen Beitrag für das Buch geschrieben. Ich hatte von Anfang an einen sehr persönlichen Zugang, weit weg von den normalen Touristenwegen. Als ich dann 1999 für den SWR, damals noch SDR, nach Kairo geschickt wurde, habe ich mich rettungslos in einem der vielen Armenvierteln verlaufen. Irgendwann sah ich, wie ein älterer Mann einem kleinen Mädchen etwas zuflüsterte. Das Mädchen kam auf mich zu, nahm mich an die Hand und führte mich aus dem Labyrinth der vielen Gassen heraus. Diese Freundlichkeit der Menschen hat mein Bild von Kairo sehr stark geprägt.
Glauben Sie, dass wir etwas von den Ägyptern lernen können?
Armbruster: Mit dem Lernen ist das ja immer etwas schwierig, aber mit Sicherheit die Aufgeschlossenheit und Gastfreundschaft. Einen Tee zu kochen, auch wenn es der letzte Tee ist und auch das letzte Brot mit dem Fremden zu teilen und darüber glücklich zu sein, dass er sich für einen interessiert. Das habe ich ganz stark gespürt, das gibt es bei uns nicht.
Warum sind Sie 1999 ausgerechnet nach Kairo gegangen?
Armbruster: Der SDR war ein kleiner Sender mit zwei Auslandskorrespondenten: einem für das südliche Afrika, einem für den Nahen Osten. Ich war in beiden Büros, habe aber irgendwann angefangen, mich auf den Nahen Osten zu spezialisieren, weil ich die Region spannender fand. Im Nahen Osten kreuzen sich viel mehr Konfliktlinien als im südlichen Afrika nach Ende der Apartheid. Wir erleben es heute mit dem Islamischen Staat (IS). Öl spielt nach wie vor eine große Rolle, es gibt viele unterschiedliche Interessen. Das alles aufzuarbeiten, hat mich schon immer sehr fasziniert.
Sie waren live auf Sendung, als Husni Mubarak am 11. Februar 2011 zurücktrat, und berichteten vom Jubel der Demonstranten. Was ist bis heute vom Jubel geblieben?
Armbruster: Nichts, aus verschiedenen Gründen. Zum einen gab es zu viele Demonstrationen, woran viele Ägypter verzweifelt sind, weil es sich wirtschaftlich ausgewirkt hat. Die Preise und Arbeitslosigkeit sind angestiegen, der Tourismus und die Investitionen sind ausgeblieben. Am Ende hat sich die Mehrheit der Ägypter mehr dafür interessiert, Brot auf dem Tisch zu haben, als für solch abstrakte Begriffe wie Demokratie und Freiheit.
Aber auch bei den Menschen vom Tahrir-Platz ist vom Jubel wenig geblieben. Einer von ihnen, der den Mubarak-Sturz zunächst begrüßte, ihn aber später, als er sah, wohin es führte, verurteilte, sagte mir kürzlich: "Wir haben unsere Kraft ausprobiert, wir sind in der Lage jemanden zu stürzen. Wir haben viele Fehler gemacht und müssen es in Zukunft anders machen. Aber wir wissen, wie stark wir sind." Ich glaube, dass dennoch eine Kraft freigesetzt worden ist, die so leicht nicht mehr einzufangen ist.
Wie schätzen Sie die aktuelle politische Situation in Ägypten ein? Was ist aus dem sogenannten Arabischen Frühling geworden?
Armbruster: Ich war Anfang des Jahres in Kairo, um das Buch "Mein Kairo" im Goethe-Institut vorzustellen. Die Menschen waren bereit, sich damit auseinanderzusetzen, obwohl es kaum politisch ist. Derzeit hat in Kairo kaum noch jemand Lust, über Politik zu diskutieren oder öffentlich Stellung zu nehmen. Das hat auch damit etwas zu tun, dass die neue Regierung und die Polizei einen sehr repressiven Kurs gegen alles fahren, was nach Opposition riecht: Seien es die Muslimbrüder oder ihre Sympathisanten, die wie am Fließband zum Tode verurteilt werden. Alles, was der Tahrir-Platz erreicht hat, wurde von der neuen Regierung zerstört.
Haben Sie die Situation 2011 vielleicht zu blauäugig eingeschätzt?
Armbruster: Ein Stück weit ja. Und zu unvorbereitet. Der Tahrir-Platz funktionierte, auch der Sturz von Mubarak, aber was kam danach? Eine Militärregierung, der Militärrat Hussein Tantawis, der schon sehr schnell mit Repressionen begann. Die Ägypter waren der Meinung, das Volk und die Armee seien eins. Das hat mich damals als Berichterstatter schon sehr irritiert, weil sie es nie waren. Die Armee war immer ein Machtinstrument in der Hand der Generäle, der ägyptischen Machtelite. Aber diese Illusion gab es und das Volk meinte, sich tatsächlich darauf verlassen zu können. Das war ein großer Irrtum. Die Zeit nach dem Sturz war schlichtweg zu wenig vorbereitet.
Nicht nur Journalisten, auch Wissenschaftler haben die Bedeutung von Facebook und Twitter damals sehr überschwänglich bewertet. Wie beurteilen Sie die Rolle sozialer Medien für die Umbrüche in der arabischen Welt heute?
Armbruster: Wir alle, die Berichterstatter, haben die Rolle der sozialen Medien überschätzt und immer von der sogenannten Facebook-Revolution gesprochen. Dabei haben wir die hohe Analphabetenquote übersehen – die vielen Ägypter, die gar nicht mit Facebook umgehen oder lesen können, sich den Demonstrationen aber dennoch angeschlossen haben, weil sie mit dem System unzufrieden waren und an den wirtschaftlichen Fortschritten des Landes teilhaben wollten. Die sozialen Medien haben als Organisationsinstrument für die Initiatoren der Demonstrationen eine wichtige Rolle gespielt, die Menschen in den Armenvierteln haben sie aber nicht erreicht. Dort sind die Leute persönlich hingegangen und haben die Menschen aufgefordert, sich den Demonstrationen anzuschließen.
Was würden Sie den Mittlerorganisationen der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik raten, wie sie solche Transformationsprozesse unterstützen und die Zivilgesellschaften stärken sollten?
Armbruster: Unter Mubarak war das noch möglich, aber heute praktisch nicht mehr. Die Regierung von Abdel Fattah al-Sisi weiß genau, das zu verhindern, zum Beispiel, indem Nichtregierungsorganisationen an die Leine gelegt werden. Es dürfen fast keine ausländischen Mittel mehr nach Ägypten geschickt werden, um zivilgesellschaftliche Organisationen zu stützen oder selbst aktiv zu werden. Die neue Regierung weiß, was die alte falsch gemacht hat, nämlich diese Organisationen arbeiten zu lassen und dadurch eine Emanzipation der Bevölkerung und Unruhen zu ermöglichen. Aber Auswärtige Kulturpolitik ist sehr wichtig, auch wenn es Mittlerorganisationen wie das Goethe-Institut in Kairo zunehmend schwerer haben. Es wird scharf von der Regierung beobachtet. Orte schaffen, wo sich Oppositionelle treffen und einigermaßen frei diskutieren können – das ist wichtig.
Wie wird sich Ägypten unter al-Sisi entwickeln?
Armbruster: Ich bin vorsichtig geworden. Als Mohamed Mursi gewählt wurde, dachte ich, dass er die nächsten zehn Jahre bleiben würde; er blieb gerade mal ein Jahr. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er so eine dämliche Politik machen würde, auch nicht mit einem erneuten Putsch. Wenn es Al-Sisi gelingt, die Wirtschaft wirklich anzukurbeln, sodass die Ägypter das Gefühl haben, dass es aufwärts geht, dann könnte ich mir vorstellen, dass er lange Zeit an der Macht bleibt.
Noch bis vor kurzem galt Tunesien als Vorbild für demokratische Transformationsprozesse in Nordafrika. Würden Sie trotz des vergangenen Anschlags in Tunis von einer gelungenen "Arabellion" sprechen?
Armbruster: Ich hoffe es. Tunesien ist noch nicht über den Berg, der Anschlag war ein gefährlicher Rückschlag. Jetzt kommt es darauf an, wie die Regierung reagiert: autoritär oder weiter demokratisch. Man darf nicht vergessen: Tunesien hat nicht nur das Frühlingsgesicht, das wir lieben, sondern auch ein hässliches, nämlich eine große und radikale Islamistenszene. Wichtig ist jetzt die Wirtschaft des Landes. Wenn sie vom Westen gestützt wird, hat Tunesien eine gute Zukunft. Die EU muss energisch investieren, um Arbeitsplätze zu schaffen, sodass die Menschen das Gefühl haben, dass sich die Demokratisierung gelohnt hat. Tunesien hatte aber auch bessere Voraussetzungen als Ägypten: Das Militär war nicht so stark und es gab eine breitere Bildungselite, auf die sich die Umstürze stützen konnten. Die neue Regierung hat einen Berg an Problemen vor sich, den sie wahrscheinlich in vier Jahren gar nicht abarbeiten kann. Das könnte die Ennahda-Partei dann für sich nutzen und sagen: "Jetzt lasst uns mal wieder ran."
Kann sich ein islamisch geprägter Staat demokratisch entwickeln?
Armbruster: Das ist von Land zu Land unterschiedlich. Tunesien ist da vielleicht am weitesten, weil seit der Unabhängigkeit immer wieder sehr auf die Trennung von Religion und Staat gedrängt wurde. Ich würde sagen, dass der Islam kein generelles Hindernis für die Demokratisierung eines Landes ist. Allerdings müssen auch Muslime umlernen und Religion und Staat viel stärker als bisher voneinander trennen. Wahrscheinlich wird das nicht in unmittelbarer Zeit erfolgen. Auch bei uns hat es lange gedauert, und auch heute ist es noch nicht hundertprozentig der Fall. Nur dort spielt der Islam eine viel gewichtigere Rolle im Alltag als bei uns das Christentum.
Auch in diesem Zusammenhang die Frage: Wie könnten wir solche Entwicklungen unterstützen?
Armbruster: Da muss sich der Westen raushalten, das müssen diese Länder selbst aushandeln. Wenn sie sich demokratisieren, wird ihre Demokratie anders aussehen als unsere, und das müssen wir akzeptieren. Es ist eine Entscheidung der Länder, nicht der Europäer, die vielleicht neunmalklug sind, aber von den Ländern des Nahen Ostens eher zurückgewiesen werden. Ich habe das immer wieder erlebt. Sowohl die autoritären Regierungen als auch die linken Bewegungen haben mir immer wieder gesagt: "Misch dich nicht ein! Lasst uns unser Ding selber machen, wir können das." Und daran glaube ich auch.
Mitte März hat sich der Beginn der Proteste in Syrien zum vierten Mal gejährt. Auch von dort haben Sie berichtet. Gab es den sogenannten Arabischen Frühling in Syrien?
Armbruster: Nein, der Krieg begann zwar mit friedlichen Protesten, aber das Regime hat sofort mit großer Gewalt reagiert und damit eine Gewaltspirale ausgelöst. Von Anfang an galt jeder, der sich gegen Baschar al-Assad stellte, als Terrorist, obwohl davon anfangs überhaupt nicht die Rede sein konnte. Wie eine "self-fulfilling prophecy" sind die Terroristen tatsächlich gekommen und heute haben wir den Kladderadatsch. Wie es aussieht? Ich weiß es nicht. Es ist heute so, dass al-Assad ein Drittel des Landes beherrscht, gestützt wird vom Iran, von Russland und der Hisbollah. Allein wäre er nicht überlebensfähig. Der IS beherrscht ein weiteres Drittel des Landes und verschiedene dschihadistische Gruppen den Rest. Gemäßigte Kräfte, die es wohl geben soll, sind kaum noch wahrnehmbar. Es wäre ein Wunder, wenn es das Syrien, wie ich es vor 2011 kennengelernt habe, irgendwann wieder geben würde. Ich habe selbst daran Zweifel.
Inwiefern haben sich die Bedingungen als Fernsehkorrespondent in den vergangenen zehn Jahren verändert?
Armbruster: Da hat sich eine ganze Menge getan. Um bei Syrien zu bleiben: Im ersten Jahr kamen wir nicht rein. Anfangs brauchte man eine Genehmigung der Regierung. Wir haben Antrag um Antrag gestellt, aber erst Ende 2012 konnten wir nach Damaskus reisen. Anfangs waren wir somit auf Youtube-Videos angewiesen. Das war eine völlig neue Erfahrung, über Unruhen aus zweiter oder dritter Hand berichten zu müssen. Wir haben versucht, ein Sicherheitsnetz aufzuspannen, haben spezielle Redaktionen gegründet, die nichts anderes getan haben, als zu versuchen, diese Videos zu verifizieren. Es war ein schlechter Journalismus aus zweiter oder dritter Hand, und mit Sicherheit haben wir Fehler gemacht.
Zum Beispiel?
Armbruster: Indem wir Bilder falsch zugeordnet haben. Das Assad-Regime hat in Youtube-Streams eigene Videos eingeschmuggelt und hinterher, nach der Verwendung durch die BBC oder Al-Jazeera, offengelegt, dass die Aufnahmen nicht aus Syrien, sondern dem Irak stammten und dann konnten sie sagen: "Seht, so lügen die!" Wir, die ARD, haben das auch getan, aber wir waren nicht wichtig genug, um an den Pranger gestellt zu werden.
Und wie haben sich die Arbeitsbedingungen als Journalist in Ägypten verändert?
Armbruster: Nach dem Sturz von Mubarak mussten wir keine Genehmigung mehr vorweisen, konnten uns im ganzen Land frei bewegen. Unter Mubarak brauchten wir für jeden Dreh auf der Straße eine Genehmigung, was nervig war, weil man aktuelle Stories natürlich nicht genehmigen lassen kann. So etwas wird bis zu zwei Wochen hinausgezögert. Wir haben trotzdem gedreht, ohne Genehmigung und immer mit einem gewissen Risiko.
Welche Ansprüche haben Sie an sich als Journalist?
Armbruster: Nicht nur den Tag, das Aktuelle zu erzählen, sondern auch, wie es zu dem Konflikt gekommen ist. Entwicklungen zu erahnen, sie rechtzeitig zu erkennen, um dann darauf hinzuweisen. Immer möglichst dicht am Menschen entlang zu erzählen, nicht abstrakte Politik zu vermitteln. Es ist wichtig, kulturelle Unterschiede zu erklären. Zum Beispiel, welche Rolle der Islam spielt, ob er wirklich so schrecklich ist. Bei Beiträgen von eineinhalb Minuten in der Tagesschau ist das natürlich schwierig, aber es gibt andere Formate wie den Weltspiegel, wo es genau darum geht. Andererseits habe ich sogar mal in der Tagesschau drei Minuten bekommen, als ich in Damaskus war und besonders spannendes Material hatte. Das ist natürlich äußerst selten, aber die Tagesschau ist da flexibler, als man vielleicht denkt.
Ist es möglich, objektiv über Konflikte zu berichten?
Diese Vorstellung muss man sich abschminken. Objektivität gibt es im Journalismus nicht, wir sind keine Wissenschaftler. Man muss wahrhaftig berichten, darf nicht dramatisieren, nicht über- oder untertreiben oder Partei ergreifen. Der Journalist muss berichten, was er sieht. Aber dass das nicht immer objektiv sein kann, muss der Zuschauer wissen, indem ihm der Reporter das vermittelt. Nachrichten sind sicherlich etwas anderes, aber in Reportagen berichten wir, was wir erleben und für wahr halten.
Was gilt für Sie als "wahr"?
Armbruster: Das mache ich abhängig von Gesprächen, den Informationen, die ich lese und den daraus erkennbaren Positionen. Ich muss mich natürlich auch auf die Menschen einlassen und mir Zeit nehmen, mit ihnen zu reden – sie reden lassen. Das ist in dem schnellen Gewerbe nicht immer einfach, aber wichtig.
Sie haben gesagt, es ginge auch darum, Entwicklungen zu antizipieren. Krisenprävention soll auch in der deutschen Außenpolitik künftig eine stärkere Rolle spielen. Wie könnten Medien präventiver informieren? Aktuell wird ja meist nur in der "heißen Phase" des Konflikts berichtet.
Armbruster: Ja, das bedauere ich sehr. Erst wenn es richtig knallt, wird auf das Thema eingestiegen. Es sind oft die Mechanismen des Mediensystems selbst, die einem Grenzen setzen. Oft dringt man bei den Kollegen in der Heimatredaktion nicht durch, wenn man darauf hinweist, dass sich etwas zusammenbraut. Das war bei dem IS ähnlich. Ein großes Thema wurde es erst, als Mossul eingenommen wurde. Wir wissen schon länger, dass es den Islamischen Staat gibt, wir sind ihm 2013 in Aleppo begegnet. Das liegt auch daran, dass dieses Thema von anderen Ereignissen wie dem Ukraine-Konflikt ab November 2013 überlagert wurde. Das war ein Konflikt unmittelbar vor der Haustür, was daher oberste Priorität hatte.
Sie haben Aleppo angesprochen. Dort wurden Sie vor fast genau zwei Jahren angeschossen. Wie geht es Ihnen heute?
Armbruster: Gut. Ich kann den Arm zwar nur eingeschränkt bewegen, aber ich kann schreiben, mit der Hand und dem Laptop, das ist am wichtigsten.
Und wie geht man mit der Erfahrung der eigenen Verletzbarkeit um – als Journalist, aber auch als Mensch?
Armbruster: Das war natürlich erst mal ein großer Schock. Wir alle, die dort rumlaufen, denken wohl, dass wir unverwundbar sind. Als in Tripolis unser Hotel beschossen wurde, lagen wir flach auf dem Boden und fanden das eher komisch. Aber wirklich verwundet zu werden, konnte ich mir nie vorstellen. Auch bei der Reise damals nach Aleppo. Einen Tag, bevor ich angeschossen wurde, sind wir vor Granatbeschüssen in Deckung gegangen, haben aber weiter gedreht, weil wir die Aufregung aufnehmen wollten. Ich glaube, man spinnt da als Reporter auch ein bisschen.
Wer trägt vor Ort die Verantwortung für die Entscheidung, wo es hingeht?
Armbruster: Die trage ich, aber wir diskutieren das im Team. Ich erinnere mich an eine Situation im Jemen, als wir neben einer Rakete standen, die eingeschlagen hatte, aber nicht explodiert war. Als dann jemenitische Soldaten anfingen, diese mit grobem Handwerkszeug auszugraben, wollte der Kameramann nicht weiterdrehen. Also fuhren wir.
Und 2013 in Aleppo?
Armbruster: Ich glaube, wir waren etwas blauäugig, weil wir auf dem Weg nach draußen, in die Türkei, waren. Wir wollten nur noch schnell einen Sack Medikamente in einem Feldlazarett abgeben, aber der Fahrer hatte sich vertan. Er war zu dicht an die Front und damit in die Schusslinie eines Scharfschützen geraten. Als wir das bemerkten, war es zu spät. Man kann hier jedem einen Vorwurf machen: dem Fahrer, mir. Gott sei Dank bin ich verletzt worden, nicht der Fahrer oder einer meiner Kollegen, sonst würde ich mir unendlich viele Vorwürfe machen.
Würden Sie nach Aleppo zurückkehren?
Armbruster: Nach Aleppo derzeit nicht, weil es eingekesselt wird und alle, die können, die Stadt verlassen. Aber nach Azaz würde ich gerne zurückkehren. Vergangenes Jahr war ich auch in Kurdistan, im syrischen Norden, was natürlich im Vergleich zu den akuten Konfliktgebieten weitaus harmloser ist, aber ich interessiere mich noch sehr für das Land.
Seit Dezember 2012 sind Sie offiziell im Ruhestand, aber nach wie vor als Reporter unterwegs. Was sind Ihre Pläne für die kommenden Jahre?
Armbruster: Vor einem Jahr habe ich die letzte große Dokumentation für die ARD gedreht, meine Zeit beim Fernsehen ist vorbei. Ich schreibe ab und an für Zeitungen. Momentan recherchiere ich für ein Buch über deutsche Juden, die in der Nazi-Zeit nach Israel ausgewandert sind. Ich halte dies für dringend, weil diese Generation altersbedingt ausstirbt. Einen Verlag habe ich schon, aber ich stehe mit den Recherchen noch ganz am Anfang.
Das Interview führte Juliane Pfordte.
© Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) 2015
"M Y C A I (Mein Kairo) Stadtlesebuch", hrsg. von Jörg Armbruster und Suleman Taufiq, Fotos von Barbara Armbruster und Hala Elkoussy, Edition esefeld & traub, 288 Seiten, Hardcover, Deutsch / Englisch / Arabisch, ISBN 978-3-9809887-8-0