Ein Jahr nach dem Tod von Jina Mahsa Amini: Ruf nach Freiheit

Vor einem Jahr starb die 22-jährige Jina Mahsa Amini im Polizeigewahrsam. Ihr Tod setzte 2022 eine Protestbewegung in Gang, die den Iran verändert hat.
Vor einem Jahr starb die 22-jährige Jina Mahsa Amini im Polizeigewahrsam. Ihr Tod setzte 2022 eine Protestbewegung in Gang, die den Iran verändert hat.

Vor einem Jahr löste der Tod der jungen Mahsa Amini im Gewahrsam der iranischen Sittenpolizei die heftigsten Proteste seit Bestehen der Islamischen Republik aus. Derzeit herrscht bestenfalls Friedhofsruhe.

Ein Jahr nach Beginn der Proteste im Iran lebt die "Islamische Republik" noch immer. Der Tod der jungen Mahsa Amini in Polizeigewahrsam am 16. September 2022 hatte im Herbst schwerste Proteste gegen das Mullah-Regime zur Folge. Landesweit gingen die Menschen auf die Straße; Hunderte wurden getötet, Tausende verhaftet und etliche Menschen hingerichtet.



Doch es knistert im Gebälk der staatlichen Strukturen. Die Revolutionsgarde Pasdaran, wichtigster Waffenträger des Gottesstaates, verstärkt derweil ihren Griff auf die Macht zulasten der mit der Durchsetzung der islamischen Sittengesetze beauftragten Sittenpolizei. Möglicher Nachfolger des 84-jährigen Staatsführers Ayatollah Ali Chamenei könnte der Garden-Kommandant Hossein Salami werden, kein Geistlicher. Dem offiziellen Regierungssystem einer "Herrschaft der islamischen Gelehrten" dürfte das keinen Abbruch tun.



Das "Jahr der Frauen" im Iran hatte im September 2022 mit einigen Haarsträhnen begonnen, die unter dem Kopftuch der 22-jährigen Kurdin Mahsa Amini hervorschauten. Die Sittenpolizei nahm sie fest und misshandelte sie offenbar im Gewahrsam, bis sie starb. Die Regierung verweist bis heute auf fadenscheinige Gründe für ihren Tod. Doch es folgten monatelange Proteste gegen das Regime. Von den Frauen schlug der Funke in vielen Teilen Irans auf die ganze Bevölkerung über. 18.000 Menschen dürften seitdem festgenommen worden sein; 23 Todesurteile wurden verhängt, 4 davon bereits öffentlich vollstreckt. Wegen "Kriegs gegen Allah und die Verderbtheit auf Erden".

 

Over the past year, since the #WomanLifeFreedom uprising following the death in custody of Mahsa/Zhina Amini, Iranian authorities have committed a litany of crimes under international law to eradicate any challenge to their iron grip on power. 1/https://t.co/cvta9Och83

— Amnesty Iran (@AmnestyIran) September 13, 2023

 

Das Regime hat den Wandel der Gesellschaft verpasst

Symbol des Aufbegehrens gegen die Staatsgewalt ist der Tschador, ein dunkles Tuch, das Haare und Körper bis zu den Fußspitzen bedeckt. In immer mehr Orten legten Iranerinnen öffentlich den aufgezwungenen Tschador ab, treten ihn mit Füßen, verbrennen ihn. Sie rufen nach Befreiung der iranischen Frau von der drückenden Männerherrschaft, immer öfter aber auch nach einem allgemeinen politischen Umschwung.



Ähnliche Bilder hatte es im Winter 1978/79 gegeben, als die Islamische Revolution durch den Iran rollte. Auch damals wurde mit dem Tschador als Fahne der Unrast demonstriert. Doch mit dem Unterschied, dass die weiblichen Umstürzler den schwarzen Umhang damals nicht ablegten, sondern überzogen; und dass ihre Umsturzparolen nicht dem islamischen Ayatollah-Regime, sondern der Herrschaft von Schah Reza Pahlavi galten. Dieser hatte einst im Zeichen der Reformen den Tschador verboten. Den Massen erschien der Islam und seine Scharia damals als Garant sozialer Gerechtigkeit. Nun stehen die Zeichen umgekehrt.



Für einen Erfolg des Aufstands von Frauen, Mädchen, aber auch vielen Männern fast aller Schichten gibt es eine gewisse Hoffnung. Von den 84 Millionen Iranerinnen und Iranern leben heute drei Viertel nicht mehr auf dem Land, sondern in einer der acht Millionenstädte. Doch auch in der Provinz sind heute so gut wie alle Haushalte dank Fernsehen und Internet informiert, was sich in den städtischen Zentren abspielt. Dort lebt die Hälfte der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, 2,5 Millionen Straßenkinder vegetieren ohne Obdach, medizinische Versorgung, Schulbildung und regelmäßige Nahrung.

 

 

Dabei hatte Revolutionsführer Ruhollah Chomeini damals versprochen: "Der Islam löst das Problem der Armut." Heute sind die vom Wohlstand ausgeschlossenen "Enterbten" jene, die sich als nächste der Frauenerhebung in Iran anschließen und ihr zum Sieg verhelfen könnten. Andererseits sehen Beobachter die Inflationsrate von 50 Prozent aber auch als Hemmschuh. Mütter, Hausfrauen und Studentinnen hätten jetzt existenziellere Sorgen, als gegen den Schleier auf die Straße zu gehen.



Dieses Kalkül stimmt aber nur zum Teil, da unerschwinglich gewordene Nahrungsmittel und Bekleidung auch den Zorn gegen das Ayatollah-Regime schüren. Zudem geht es bei den Protesten auch um das Aufbegehren der Minderheiten im Iran. Die Tötung der Kurdin und Sunnitin Amini löste kurz vor dem ersten Jahrestag bei ihrer nationalen und religiösen Minorität neuen Protest aus, etwa im sunnitischen Belutschistan an der afghanischen Grenze. Derweil glüht im iranischen Aserbaidschan der vom Mystiker Ali Gazi Tabatabai (1866-1947) entfachte Funke schiitischer Gewaltlosigkeit weiter. Diese unpolitische Richtung hat ebenfalls Zukunft für eine Nach-Ayatollah-Zeit.



Die kleine Minderheit christlicher Frauen und Mädchen ist bei den iranischen Protesten bisher nicht hervorgetreten. Armenier, Chaldäer und auch römische Katholiken haben zusammen in der Islamischen Republik rund 250.000 Mitglieder. Der Tschador ist ihnen nur in der Öffentlichkeit vorgeschrieben. Doch wollen sie offenbar ihre letzten Privilegien wie die öffentliche Gottesdienstfeier mit Messwein und den christlichen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen nicht gefährden. (KNA)

 

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