Literarische Streifzüge zwischen Istanbul und Essen
"Okay, jetzt machen wir eine kurze Pause!" Diesen Satz musste der aus der Türkei stammende Autor und Kabarettist Kerim Pamuk bei seiner Straßenbahn-Lesung in Essen oft wiederholen. Nicht, weil er schnell müde wurde, sondern weil seine Stimme durch die schrill pfeifenden Schienen im Tunnel und in scharfen Kurven übertönt wurde.
Mobile Lesung durch interkulturelle Stadtviertel
Störend empfanden die rund 30 Fahrgäste und Zuhörer diese Unterbrechungen dennoch nicht. Sie konnten in der Pause über den bereits vorgelesenen Text nachdenken - etwa über die ironisch dargestellten Rituale einer türkischen Hochzeit - oder einfach aus dem Fenster hinausschauen und die vom Regen glänzenden "bunten Viertel" im Norden der Stadt bewundern, in denen vor allem Türken leben.
Das gehört auch zum Konzept des 1. Türkisch-Deutschen Literaturfestivals, kurz: "Literatürk", das vom 20.- 23. Oktober in Essen stattfand.
"Viele Einwohner der Stadt waren nicht einmal in dieser Gegend!", sagt Johannes Brackmann, der als Geschäftsführer des Kulturzentrums "Grend" beim dreiköpfigen Veranstaltungsteam das Festival organisiert und durchgeführt hat. "Durch diese mobile Lesung wollen wir den Essenern die Möglichkeit geben, das andere Gesicht ihrer Stadt kennen zu lernen."
Eine Straßenbahn-Lesung war nicht das einzige literarische Erlebnis des viertägigen Festivals in einem ungewöhnlichen Ambiente: Neben einem typisch türkischen Restaurant und der legendären Lichtburg ("Sabu"), die bereits zur Eröffnung 1928 als das modernste Filmtheater Deutschlands galt, las der 47-jährige deutsche Autor Thorsten Becker aus seinem Buch Sieger nach Punkten in den gemütlichen Räumlichkeiten des "türkischen Elternverbandes".
Becker musste kurz vor Sonnenuntergang eine Pause einlegen, damit das türkische Publikum, das nach den islamischen Geboten den ganzen Tag gefastet hatte, essen konnte. In dieser Pause wurde aber weiterdiskutiert, über das Schicksal des Helden Beckers und über das Leben eines anatolischen Jungen, der nach Deutschland kommt, um Europameister im Boxen zu werden.
Selim Özdoğan's Romanwelten
Aus Anatolien kommt auch die Hauptfigur des Romans Die Tochter des Schmieds. Der 34-jährige türkischstämmige Schriftsteller Selim Özdoğan aus Köln schildert in seinem Buch das Leben eines Mädchens namens Gül, die von der Geburt an bis zu dem Tag, an dem sie Mutter zweier Töchter wird, ihrem Ehemann nach Deutschland folgt. Gül ist, wie Özdoğan sie charakterisiert, tugendhaft elegant und liebenswürdig. Man leidet mit ihr und wünscht ihr mehr Mut, Fantasie und Durchsetzungsvermögen.
Von diesen Eigenschaften träumten zum Teil auch die weiblichen Romanfiguren in den Kurzgeschichten der in Istanbul lebenden, 58-jährigen Literaturprofessorin und Schriftstellerin Feyza Hepçilingirler. Sie las auf der "LiteraTürk" aus ihrem Erzählband Die Hochzeitsnacht im Kulturzentrum "Unperfekthaus".
Eine Hochzeit – wenngleich tscherkessischer Art – war auch Thema von Çetin Öner. Öner, der auch als Regisseur, Drehbuchautor und Schauspieler international bekannt ist, erzählt in seinem in Deutschland erschienenen Roman Der letzte Tscherkesse von der alten Kultur und dem urtümlichen Leben der Kaukasier.
Die deutschsprachige Lyrikerin Zehra Çirak gelang es, am letzten Tag des Festivals mit ihren Gedichten eine Brücke zwischen Istanbul und Berlin zu schlagen: Im Essener Katakomben-Theater las sie sowohl aus ihrem ersten Lyrikband Flugfänger, in dem sie sich mit ihrer türkischen Herkunft auseinandersetzte, als auch aus der Gedichtsammlung Leibesübung, in der sie sprachlich experimentell und inhaltlich frei improvisierte.
Um die Fantasie von Kindern und Jugendlichen anzuregen, las die 32-jährige Journalistin und Moderatorin Asli Sevindim aus zweisprachigen Büchern für Kinder von 6 bis 12 Jahren vor.
Parodien auf deutsch-türkischen Alltag
Auch hatten Schüler und Schülerinnen der Erich-Kästner-Gesamtschule während des Festivals die Möglichkeit, den in Izmir geborenen deutschsprachigen Autor Osman Engin life zu erleben – und sich über seine Satiren aus dem nicht selten skurril anmutenden deutsch-türkischen Alltag zu amüsieren.
Amüsiert hat sich das Publikum auch über das "Hitlerkebab - Getrennte Rechnungen"-Programm des 37-jährigen Schauspielers und Autors, Serdar Somuncu – eine spannende und provokative Show, die als Abschlussveranstaltung auf der "LiteraTürk" aufgeführt wurde.
Damit gelang es dem Organisationsteam des Festivals auf überzeugende Weise, mit elf deutsch-türkischstämmigen Autoren und Autorinnen sowie insgesamt 13 literarisch eindrucksvollen Veranstaltungen, das Thema Migration und Heimat in vielen Facetten darzustellen.
Dabei wurde vor allem durch die Auswahl der Literaten der zweiten Generation türkischer Herkunft dem Anspruch der Veranstalter nach Begegnung und Dialog zwischen den Generationen türkischstämmiger Migranten sowie der deutschen Bevölkerung entsprochen.
Fahimeh Farsaie
© Qantara.de 2005