Unbekannte Hüterinnen der Tradition
Im Jahr 1995 fing Mohammad Akram Nadwi an, altarabische Manuskripte nach Frauennamen zu durchforsten. Nadwi forschte damals in Oxford am Zentrum für Islamstudien und hatte sich über einen Artikel in der London Times geärgert. Der Islam sei schuld daran, dass Frauen in der muslimischen Welt kaum gebildet wären. Nadwi wollte dem etwas entgegensetzen und suchte nach weiblichen Gelehrten. Er hatte gehofft, vielleicht die Spuren von 20 oder 30 Frauen zu finden. "Ich merkte damals, dass es sehr viele Frauen gab, die sich aktiv um Wissen bemüht haben,“ erzählt er. "Manchmal schrieb ein einzelner Gelehrter: 'Ich habe mit 70 Frauen studiert.‘ Ein anderer gibt ein Hadith weiter, das von insgesamt 400 Frauen überliefert worden war.“
Hadithe sind nach dem Koran die zweitwichtigste Quelle für viele Muslime. Es sind Überlieferungen aus dem Leben des Propheten Mohammed, über Dinge, die er gesagt oder getan haben soll. Für Muslime sind sie deshalb so wichtig, weil sie die abstrakte Botschaft des Koran in konkrete Lebenspraxis übersetzen. Um einschätzen zu können, ob ein Hadith authentisch ist, haben Muslime schon früh Quellenkritik betrieben.
Nadwi suchte also in bekannten und weniger bekannten Hadithsammlungen nach Frauennamen, aber auch in Biografien und Berichten, die Gelehrte über ihre Lehrer – und Lehrerinnen – geschrieben hatten. Und fand viel mehr, als er erwartet hatte.
Erstaunlich, wie viele weibliche Gelehrte es gab
Aus dem Artikel, den er schreiben wollte, wurde ein Buch, aus dem Buch ein Lexikon. Mitte Januar 2021, nach mehr als 20 Jahren Arbeit, hat er sein Werk vollendet. In 43 Bänden finden sich die Biografien von mehr als 10.000 Frauen. 10.000, das ist eine Zahl, die sogar die islamische Theologin Dina El Omari überrascht hat. Sie forscht an der Universität Münster:
"Dass es viele weibliche Gelehrte gab, war mir bewusst. Aber dass es am Ende so viele waren, das ist dann doch erstaunlich und macht das ganze Projekt megaspannend.“
Spannend sind auch die Geschichten über die Frauen, die Nadwi erzählt. Da ist etwa Umm al-Darda, eine prominente Juristin im Damaskus des 7. Jahrhunderts. Als junge Frau studierte sie gemeinsam mit den Männern und betete mit ihnen im Männerbereich der Moschee – das wäre heute in den allermeisten Moscheen undenkbar. Oder Karima al-Marwaziyya, die im 11. Jahrhundert in Mekka lebte. Ihre Abschrift der wichtigsten Hadithsammlung, der Sammlung al-Buhari, gilt bis heute als eine Art Masterkopie.
Insgesamt, schätzt Nadwi, wurde etwa ein Viertel aller Hadithe von Frauen überliefert. Und sie waren offenbar nicht nur fleißig, sondern auch gründlich. "Bei den Überlieferungen des Propheten finden sich sehr, sehr viele Männer, denen vorgeworfen wurde, sich Hadithe ausgedacht zu haben. Aber alle Hadith-Gelehrten sagen: Es gibt nicht eine einzige Frau auf der ganzen Welt, der vorgeworfen wurde, in Bezug auf ein Hadith des Propheten gelogen zu haben. Das ist erstaunlich.“
Männer wurden berühmt, Frauen versteckt
Wenn es aber so viele gelehrte Frauen gab und sie so gut waren – wie konnte es dann passieren, dass ihre Namen heute fast vergessen sind? Mohammed Akram Nadwi erklärt das anhand des Beispiels des großen islamischen Gelehrten Ibn al-Sam'ani, der im 13. oder 14. Jahrhundert lebte.
"Al-Sam’ani sagte, er wollte bei einer Dame lernen, die Karima hieß: 'Ich habe ihren Bruder so oft gefragt, ob ich bei ihr studieren kann. Aber ihr Bruder hat immer Ausreden gefunden.‘ Man sieht hier das Problem: Wenn die Leute einen Sohn oder einen Bruder haben, dann wollen sie, dass er berühmt wird. Wenn sie eine Tochter oder Schwester haben, wollen sie diese verstecken.“
Nadwi hat die Frauen mit viel Energie wieder aus der historischen Versenkung hervorgeholt. Trotzdem ist er nicht das, was man in Deutschland einen liberalen Muslim nennen würde. Im Gegenteil: Nadwi hat auch schon mit dem Europäischen Fatwa-Rat (European Council for Fatwa and Research) zusammengearbeitet, der der islamistischen Muslimbruderschaft zugerechnet wird. Und als Feminist würde er sich wohl nicht bezeichnen.
"Nein, ich glaube nicht wirklich, dass ich ein Feminist bin,“ sagt Nadwi. "Aber der Feminismus und ich sind uns in einem Punkt einig: Ich glaube auch, dass Frauen unterdrückt wurden und dass wir hart arbeiten sollten, um ihre Rechte zu verteidigen und ihnen die Ehre zu erweisen, die sie verdienen. Was ich nicht mag, ist, dass der Feminismus Männer und Frauen gleichmachen will.“
Ausgebremst im Namen der Tradition
Für muslimische Frauen ist seine Arbeit trotzdem wichtig: Weil sie ihnen Argumente liefert, die sie im Kampf um mehr Mitsprache brauchen. Denn noch heute verweisen manche muslimische Männer auf "die Tradition“, um Frauen von Machtpositionen fernzuhalten, sagt Gönül Yerli.
Die Vizedirektorin der islamischen Gemeinde Penzberg ist eine der ganz wenigen Frauen an der Spitze einer Moschee in Deutschland. Und nicht alle in der bayerischen Gemeinde konnten das zu Beginn akzeptieren, sagt Yerli. "Ein Mann hat zu mir gesagt: 'Weißt du, es gibt doch einen Hadith: Wenn eine Frau an die Spitze einer islamischen Gemeinschaft kommt, dann ist diese Gemeinschaft verflucht, und sie wird nie ihr friedliches Ziel erreichen.‘“
Auch Dina El Omari kennt Fälle, in denen Männer religiöse Argumente nutzen, um Frauen zu manipulieren. "Wir haben da eine Überlieferung, die auch dem Propheten in den Mund gelegt wird: Wenn ein Mann eine Frau in sein Bett bittet und diese sich verweigert, dann würden die Engel sie die ganze Nacht verfluchen,“ sagt El Omari und ergänzt: "Das ist natürlich ein ganz hartes Beispiel, das zeigt, wie Frauen auch mithilfe von Religion gedrängt werden etwas zu tun, was sie eigentlich gar nicht wollen.“
Dass solche Aussagen so weit verbreitet sind, hat laut Gönül Yerli auch einen ganz praktischen Grund: Die Hadithe seien viel eingängiger als die abstrakten Aussagen im Koran mit seiner komplexen Sprache. "Der Koran bietet ja eben auch nicht für jede Frage eine Antwort. Eigentlich gar nicht, muss man sagen.“
Frauenfeindliche Überlieferungen hinterfragen
Beide, Gönül Yerli und Dina El Omari, versuchen, den frauenfeindlichen Hadithen in ihrer Arbeit etwas entgegenzusetzen, in der Lehre und in der Seelsorge. El Omari erklärt dann zum Beispiel, dass es gerade bei diesen Hadithen sehr unsicher sei, ob Mohammed sie jemals gesagt hat. Denn ausgerechnet in den ältesten Sammlungen fänden sie sich nicht.
"Das ist ja schon auffällig,“ meint sie und dann müsse man wirklich sagen, "diese frauenfeindlichen Überlieferungen stehen in so einem krassen Kontrast zur Biografie des Propheten, dass sie einfach nicht reinpassen.“
Solange Frauen mitreden konnten, sagt El Omari, hätten sie frauenfeindliche Überlieferungen auch korrigiert. Aisha etwa, eine der Lieblingsfrauen des Propheten, hat sich nach dem Tod ihres Mannes öfter mit Abu Huraira gestritten, einem der Gefährten des Propheten.
Abu Hureira erzählte zum Beispiel, das rituelle Gebet eines Mannes werde ungültig, wenn eine Frau in seiner Gebetsrichtung vorbeiläuft, so Omari. "Aisha hat dann ein Veto eingelegt und klar gemacht, das hätte der Prophet so nie gesagt.“
Aisha selbst berichtet in verschiedenen Hadithen, dass der Prophet auch dann in seinem Zimmer gebetet habe, wenn sie vor ihm im Bett lag. Solche Beispiele zeigen, warum es wichtig ist, dass weibliche Gelehrte endlich wieder wahrgenommen und anerkannt werden. Das sieht auch Mohammad Akram Nadwi so. "Denn wenn Frauen nicht repräsentiert sind, dann vertritt sie auch niemand. Dann werden sich falsche Ideen über Frauen durchsetzen und niemand kann sie verteidigen.“
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Mohammad Akram Nadwis Lexikon ist unter dem Titel "al-Wafā‘ bi asmā‘ al-Nisā‘“ im saudi-arabischen Dar al-Minhaj-Verlag erschienen. Eine deutsche Übersetzung gibt es bisher nicht. 2007 erschien eine englische Zusammenfassung der ersten Teile unter dem Titel "Al-Muhaddithat: The Women Scholars in Islam“ bei Interface Publications. Das Buch hat 336 Seiten und kostet etwa 20 Euro.