Der Zentralstaat soll von unten wachsen
Geostrategisch jahrzehntelang Spielball zwischen Ost und West, dann Beute verfeindeter islamistischer Milizen, versucht Afghanistan erste demokratische Gehversuche. Der Anstoß kam von außen und von oben, die ersten Schritte werden jetzt auf der Dorf- und Distriktebene gemacht. Hannelore Börgel über die neusten Entwicklungen
Mit dem National Solidarity Program (NSP) versucht die afghanische Regierung seit 2003 die Entwicklung des Landes breitenwirksam voranzutreiben. Es soll die Kommunen befähigen, ihre Wiederaufbau- und Entwicklungsprojekte mittels gewählter Development Councils selbst zu identifizieren und während des gesamten Projektzyklus mit demokratischer Legitimation zu planen, zu managen und zu überwachen.
Der Implementierungsrahmen des NSP gibt die einzelnen Schritte für die Finanzierung der Kommunen, transparente Auswahlkriterien, das Management des Wiederaufbaus und der Entwicklung im Einzelnen vor. In den 32 Provinzen Afghanistans wurden je Provinz drei Distrikte ausgesucht, in denen das NSP implementiert werden soll. Alle Dörfer erarbeiten gemeinsam mit den Bewohnern Dorfentwicklungspläne.
Nach dem ersten Implementierungsjahr werden weitere Dörfer in den Prozess einbezogen. Wie im Schnellballeffekt soll sich das System in den einzelnen Distrikten und in weiteren Distrikten ausbreiten. Man geht davon aus, dass die Dörfer nach ein bis zwei Jahren anschiebender Unterstützung in der Lage sind, eigenständig weiterzumachen.
Die Planung sieht vor, in den ersten drei Jahren 20.000 Dörfer in den Prozess einzubeziehen. Nationale und internationale Nichtregierungsorganisationen (NRO) sind als Implementierungspartner in den Distrikten tätig. Pro Distrikt stehen im ersten Jahr 1,6 Millionen US Dollar zur Verfügung.
Es wird erwartet, dass alle regierungsunabhängigen Implementierungspartner weibliches Personal einstellen und Konsultationsmechanismen für Frauen in den Dörfern erarbeitet werden. In den Dorfentwicklungsplänen müssen die Mechanismen sowie der Input der Frauen bei der Prioritätensetzung der Bedarfe, bei der Auswahl der offiziellen Vertreter beschrieben werden. Das Programm stärkt in seiner ersten Phase vor allem den Aufbau der sozialen Infrastruktur auf Dorf- und Gemeindeebene.
Gewählte Gremien
Soweit das Modell. Spannend verläuft der Wahlprozess für die Development Councils. Hier werden die Grundlagen für die demokratische Praxis gelegt. Hier sollen ethnische Grenzen und Linien, die der Bürgerkrieg gezogen hat, sowie die Geschlechterdiskriminierung überwunden werden. Erste Erfahrungen mit der Demokratisierung wurden in den Vorbereitungen zur Loya Dschirga und zur Verfassungsversammlung im Dezember 2003 gewonnen.
Willensbildungsprozesse fanden und finden in Afghanistan traditionell in den Shuras statt. Shuras sind die traditionellen Foren, die zum Teil mehrere Dörfer repräsentieren und hierarchisch organisiert sind.
Aus Mangel an Alternativen dienten sie in den letzten Jahren der Entwicklungszusammenarbeit als Ansprechpartner. Offensichtlich wurde jedoch, dass die traditionellen Shuras sich stärker demokratisieren und legitimieren müssen, um den Willen der Dorfbevölkerung zu repräsentieren, denn in den Shuras üben weiterhin einflussreiche Dorfhonoratioren ihren Einfluss aus.
Die Development Councils sind vor diesem Hintergrund ein großer Schritt vorwärts. Realistisch betrachtet werden die traditionellen Shuras und die neu zu wählenden Development Councils wohl nebeneinander existieren, es sei denn sie gehen in Einzelfällen ineinander auf.
Kontrolliert werden die Development Councils von den Dorfversammlungen, in die jede Familie Repräsentanten schicken kann. In Dörfern, in denen Purdah (Geschlechtertrennung) besonders konservativ ausgelegt wird und Frauen nicht an Dorfversammlungen teilnehmen können, sollen separate Foren für Frauen etabliert werden. Es werden Mechanismen etabliert, die die Entscheidungen der Frauenforen in die Dorfversammlungen tragen, damit diese in den Development Councils berücksichtigt werden.
Alte Strukturen noch wirksam
Natürlich sind in diesem Verfahren Manipulationen möglich. Wer geht zu den Dorfversammlungen, welcher alte Notable übt weiterhin seinen Einfluss über die zum Teil durch Krieg und Dürre tief verschuldeten Dorfbewohner aus? Im Vergleich zu den traditionellen Shuras wird jedoch der Versuch unternommen, die Dorfgemeinschaft insgesamt an den Entscheidungen partizipieren zu lassen.
Gleichzeitig müssen die traditionellen Eliten zur Kenntnis nehmen, dass die Entwicklung des Dorfes nur gemeinsam vorangebracht werden kann. Das Modell hat bei Nichterfüllung von Kriterien und groben Verstößen Sanktionsmöglichkeiten eingebaut. Es ist ein mühsamer Prozess, den die NRO begleiten müssen.
Es sind nicht nur die alten Dorfeliten zu überzeugen, sondern auch die Männer, dass Frauen gleichberechtigte Teilnehmerinnen des Entwicklungsprozesses sind. Rückschritte und Stillstand sind absehbar. Das Ein- bis Zweijahresprogramm ist zu optimistisch angelegt. Daher haben einige NRO auch schon mitgeteilt, sie würden länger in den Dörfern/Distrikten bleiben wollen, damit der Schnelllehrgang in Sachen Demokratie und Entwicklung nicht zusammenfällt.
Schwache Ministerialbürokratie
Ein weiterer Schwachpunkt sind die staatlichen Stellen auf Provinzebene, die der Ministerialbürokratie in Kabul Rechenschaft geben. Sie sollen langfristig die Ansprechpartner für Dienstleistungen in den Dörfern sein. Zurzeit bekommen die hoch motivierten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen mit 32 US Dollar monatlich aber nur ein jämmerliches Gehalt, das weit unter dem ihrer NRO-Partner liegt, mit denen sie in den Dörfern Seite an Seite arbeiten sollen.
Sie sind auf den Goodwill der NRO angewiesen, um überhaupt in die Distrikte und die Dörfer zu gelangen. Die NRO besitzen die Autos, mit denen die entlegenen Winkel über schlechte Straßen und Wege regelmäßig angesteuert werden können.
Beeindruckend ist vor diesem Hintergrund das Engagement der Afghanen – in den Regierungsstellen ebenso wie in den NRO. Respekt muss man zum Beispiel den Frauen zollen, die fast ohne Mittel Frauendepartments in den Regierungsstellen aufgebaut haben.
Gezielte Maßnahmen für Frauen
Aber auch denjenigen Frauen, die über ein Jahrzehnt in Pakistan gelebt und verantwortungsvolle Positionen bekleidet haben. Sie sind zurückgekommen, streifen sich Burkas über und überlegen, wie sie in den Provinzen Arbeitsplätze für Frauen schaffen können.
Viele Frauen, häufig Kriegerwitwen, suchen dringend nach Einkommensmöglichkeiten, um sich und ihre Kinder zu ernähren. Wenige Frauen haben eine Ausbildung. Ihre Situation wird sich nur langsam verändern. Sie hängt vor allem von der Veränderung ihres konservativen Umfeldes ab.
Auf Frauen ausgerichtete Maßnahmen müssen daher stets das Umfeld mitberücksichtigen, die Ehemänner, die Mullahs. Der Einsatz von Frauen, afghanischen wie ausländischen Frauen, als Beraterinnen ist ein wichtiger Schritt, um weibliche Lebenswirklichkeit in den ländlichen Gebieten zu beeinflussen. Berater können nur – von Ausnahmen abgesehen – indirekt Kontakt über die Ehemänner zu den Frauen aufnehmen.
Andererseits können afghanische Beraterinnen mit Männern in den Dörfern nur unter der Burka reden. Ausländische Beraterinnen haben dagegen auch ohne Kopftuch Zugang zu beiden Geschlechtern. Einige NRO setzen afghanische Ehepaare als Berater/In auf Dorfebene ein. Die Frau kann dann problemlos gemeinsam mit dem Ehemann von Dorf zu Dorf reisen, übernachten und die Frauen beraten.
In einigen Dörfern haben sich bereits Frauenshuras gebildet. Damit soll sichergestellt werden, dass die Belange der Frauen Gehör finden. Aber auch die Frauenshuras können sich nicht Manipulationsversuchen entziehen.
Häufig ist nur eine kleine Anzahl von Frauen aktiv, die wiederum den „wichtigen“ Familien des Ortes angehören beziehungsweise eine Ausbildung abgeschlossen haben. Fundamentalistische Gruppierungen versuchen ihre eigenen Frauenorganisationen zu gründen, um Wahlen in ihrem Sinne zu beeinflussen.
Demokratisierung entwickelt sich langsam
Repressive Machtstrukturen, die jahrzehntelang das Land verwüstet haben, können nicht im Zwei-Jahres-Rhythmus beseitigt werden. Die EZ wird sich auf langfristige Unterstützung einrichten müssen – personell inklusive Sachmittel. Es gibt keine Alternative.
Der Prozess der Demokratisierung ist angestoßen, in manchen Dörfern sind vielleicht mehrere Anläufe notwendig, um ihn abzusichern. Ist die Entwicklung von unten nach oben bei gleichzeitiger Absicherung der Rahmenbedingungen einmal in Gang gesetzt, sind Rückfälle zwar nicht ausgeschlossen, aber weniger wahrscheinlich, weil die Auswirkungen von Zerstörung noch allen präsent sind.
In den Nordprovinzen beispielsweise haben einzelne Rückschläge in den vergangenen Monaten keine unkontrollierten Folgeanschläge provoziert. Im Gegenteil – mit Zivilcourage beendeten die Besucher des Freitagsgebets in Kundus die Provokation eines angereisten pakistanischen Mullahs, der zum Widerstand gegen alles Westliche aufrief. Sie entzogen ihm kurzerhand das Wort. Eigentlich eine gute Ausgangssituation.
Hannelore Börgel
© Entwicklung und Zusammenarbeit 5/2004
Dr. Hannelore Börgel arbeitet seit 1981 als entwicklungspolitische Gutachterin für staatliche und zivilgesellschaftliche Organisationen. Afghanistan besuchte sie zuletzt im November und Dezember 2003.
Zeitschrift Entwicklung und Zusammenarbeit