Auf dem Highway von Kabul nach Masar-i-Scharif
"Entweder Gott will uns bestrafen oder er ist verwirrt", sagen die Menschen. Schnee Mitte März in Kabul - oder anders gesagt am Ende des Hut, dem letzten Monat im persischen Kalender - das ist nicht normal.
Die afghanische Hauptstadt Kabul wirkt bei meiner Ankunft kalt, düster und neblig. Vor ein paar Tagen noch hat es hier geschneit. Am Wegesrand zeugen davon kleine Schneehaufen, die der Straßendreck braun gefärbt hat. Was übrigbleibt ist eine braune Matschsuppe, die in den Seitenstraßen das Fortkommen erschwert.
Dabei feiern die Afghanen in diesen Tagen Nouruz, das persische Frühlings- und Neujahrsfest. Auch im durch und durch islamischen Afghanistan nimmt diese Tradition aus vorislamischer Zeit einen wichtigen Platz im Leben der Menschen ein. Obgleich das Nouruz-Fest hier nicht so enthusiastisch wie im Nachbarland Iran zelebriert wird, strömen zum Jahresbeginn Zehntausende aus dem ganzen Land nach Masar-i-Scharif.
Vor der Blauen Moschee von Masar wird das neue Jahr mit einer feierlichen Zeremonie begrüßt. Wer ihr beiwohnt, kann sich besonders glücklich schätzen. In Bussen, Autos und mit dem Flugzeug reisen Pilger aus Kabul und anderen Teilen des Landes dafür an. Ich will mich im Taxi auf den Weg in die "Hauptstadt des Nordens" machen.
"Bia ke berem ba Mazar!" ("Lasst uns nach Masar fahren!") scheppert es aus dem Radio unseres Fahrers, den ich Gul Zaman nennen werde. Gul Zaman hat den richtigen Roadsong gewählt für die 425 Kilometer lange Strecke von Kabul nach Masar-i-Scharif. Das Lied stammt von Sarban, dem legendären Sänger aus den goldenen Jahren des afghanischen Pop. Er verkörpert mit seiner Musik die Zeit vor den Sowjets, vor den langen Bürgerkriegsjahren und vor den Taliban. Eine Zeit, die für viele Afghanen um Lichtjahre zurückliegt. "Bia ke berem ba Mazar" wird in diesen Tagen tausendfach im Land gespielt.
Gul Zaman trägt einen angestaubten Shalwar Kamiz und um den Kopf einen schwarz-weißen Schal, der dem Palästinensertuch ähnelt. Sein Gesicht ist dunkel und faltig. Es wird von einem dunklen Bart bedeckt, den graue Strähnen durchziehen. Gul Zaman muss mindestens in den fortgeschrittenen Fünfzigern sein. Trotzdem ist er der Schnellste auf der Straße. In einer Reihe von Überholmanövern zieht er mit seinem Toyota aus den 1990er Jahren an der LKW-Schlange vorbei, die kriechend Kurs auf den Salang-Pass nimmt.
Wegen Lawinengefahr war der Salang-Pass für mehrere Tage gesperrt. Erst vor ein paar Stunden wurde dieses Nadelöhr für den Verkehr freigegeben. Und schon brachten sich am Rand von Kabul die ersten Taxis in Stellung, um wieder Passagiere nach Masar zu bringen. Von all den Fahrern am Taxistand hat Gul Zaman am wenigsten gestikuliert und für sich geworben. Das sprach für ihn.
Die Hauptstadt haben wir nun im Rücken. Der Highway führt über die Ebene der Provinz Kabul. Reihen von Lehmhäusern ziehen vorbei. Esel und Kinder transportieren Bündel mit Ziegelsteinen. In engen Holzverschlägen am Straßenrand liegt die Ernte der Bauern zum Verkauf aus. In manchen Dörfern hat man liegengebliebene LKW-Container zu Wohnhäusern oder Werkstätten umfunktioniert. Ihre Klappen dienen nun als Türen. Nackte Glühbirnen beleuchten stählerne Innenräume.
Viele der Reisebusse, denen wir begegnen, tragen deutsche Kennzeichen. Manchmal wurde das afghanische Nummernschild einfach darüber getackert. An den Seiten sind noch die Initialien deutscher Städte erkennbar. Die Namen von Reiseunternehmen auf den importierten Bussen bestreiten einen Wettbewerb. Die Busgesellschaft "Schulz Reisen Wuppertal" transportiert nun Afghanen, und ein Betriebsbus des Arbeiter-Samariter-Bundes, "Ortsverband Lübbenau", ist gerade im Schnee stecken geblieben.
"Seit dreißig Jahren fahre ich Taxi. Ich bin unter den Sowjets gefahren, unter den Taliban und nun unter Karzai", erzählt Gul Zaman und hebt dabei nicht den Blick von der Straße. Ich frage ihn, welches wohl die beste Zeit war. Ohne zu zögern antwortet Gul Zaman: "Die jetztige. Afghanistan ist endlich frei."
Die Straße schlängelt sich nun in die Berge hinein. Fast unbemerkt gewinnen wir an Höhe. Die Dörfer liegen nun nicht mehr rechts und links von der Straße, sondern schmiegen sich an raue Felswände. Eine dicke Schneedecke macht aus ihnen Inseln in einem Meer von Weiß. In jedem Dorf ist es das gleiche Bild: Zehnjährige Jungen haben den Schnee zur Seite geschaufelt und stützen sich zum Verschnaufen auf ihre Schaufeln. An manchen Stellen haben sie eine zwei Meter hohe Wand konstruiert.
Schilder, die aus dem Schnee ragen, zeigen die Kilometerzahl bis zum Salang-Tunnel an. Ende der 1990er Jahre wurden die Eingänge des auf einer Höhe von 3.400 Meter liegenden Tunnels bei Kämpfen zwischen der Nordallianz und den Taliban zerstört. Unter den Taliban musste Gul Zaman die viel längere und mühseligere Strecke über Bamiyan nach Masar nehmen, sagt er. Damals gab es weniger Taxis auf den Straßen. Deshalb verdiente Gul Zaman auch mehr als heute. Von seinem Geld muss er eine siebenköpfige Familie ernähren. "Es reicht zum Leben, aber nicht zum Sparen."
Ein paar Kilometer vor dem Pass kommt der Verkehr für eine Stunde zum Erliegen. Gul Zaman ist gelassen. Lastwagen blockieren die Straße. Autos stehen kreuz und quer. Es geht weder vor noch zurück. Zwei dunkelgrüne Armee-Pickups bahnen sich einen Weg durch die wartenden Autos. Afghanische Soldaten mit Maschinengewehren regeln nun den Verkehr. Einige haben Uniformen, andere tragen zivile Kleidung. Sie bellen in ihre Funkgeräte und zeigen Präsenz. Mehr können sie aber auch nicht machen.
Gul Zaman wartet. Langsam ziehen die Fahrzeuge von gegenüber wieder an uns vorbei. Manchmal erblickt Gul Zaman ein bekanntes Gesicht und grüßt. Vor dem Tunneleingang holt er dicke Schneeketten hervor. Im Licht meiner Handy-Taschenlampe legt er die Ketten an die Reifen. Die Straße ist vereist, Gul Zaman muss das Tempo widerwillig drosseln.
Nach einer kurzen Rast hinter dem Salang-Tunnel steckt er sich eine Zigarette an. Der süßliche Geruch von Marijuana hüllt das Taxi ein. Es ist längst dunkel. Soldaten halten an Checkpoins sporadisch Autos an, um nach Aufständischen zu suchen. Jemanden mit dreißig Jahren Fahrerfahrung sollte ein Joint nicht aus der Fassung bringen, sage ich mir. Und so fliegt Gul Zaman uns nach Masar, die Sarban-Kassette immer wieder von Neuem einlegend.
Die Hauptstadt des Nordens begrüßt uns mit einem Regen, wie es ihn hier wohl lange nicht mehr gegeben hat. Das schlammige Wasser reicht so hoch, das Tropfen durch die Ritzen der Autotüren gelangen. Gott muss diesmal wirklich verwirrt sein.
Marian Brehmer
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