Die andere Hälfte der Gesellschaft
Als allein reisender Mann in Afghanistan sind Begegnungen mit Frauen spärlich. Man gewöhnt sich daran, nur in Kontakt zum gleichen Geschlecht zu stehen. Gleichzeitig stellt sich mir die Frage: Wie steht es wirklich um die Frauen in dem Land, das oft synonymisch mit ihrer Unterdrückung verwendet wird?
Eigentlich wollte ich diese Frage einer Frau stellen. Doch die zwei jungen Damen haben abgesagt. Stattdessen sitze ich nun dem 25jährigen Frauenrechtler Zafar Salehi gegenüber. Er hat mich ins Zentrum von "Young Women for Change", einer jungen Kabuler Frauenrechtsorganisation, eingeladen.
Fast versteckt liegt die Organisation in einer Seitenstraße. Ein Privathaus mit einem Hausmeister, der die Tür öffnet und Tee kocht. Wie so oft bei NGOs in Kabul weist kein Schild von außen auf die Existenz des Vereins hin.
Zafar Salehi erklärt mir, warum er sich für Frauen einsetzt: "Wenn du Veränderung in Afghanistan willst, kannst du nicht einfach die eine Hälfte der Gesellschaft ignorieren." Und genau das sei in den letzten Jahrzehnten in Afghanistan geschehen. "Das meiste was Frauen zustößt hat seine Wurzeln im fehlenden Bewusstsein der Männer über Frauenrechte", sagt Zafar Salehi.
"Young Women for Change" wurde im April 2011 von den Studentinnen Anita Haydery und Noor Jahan Akbar gegründet. Innerhalb kurzer Zeit trafen sich die beiden mit gleichaltrigen Frauen, benannten Missstände und organisierten sich. Inzwischen arbeiten neben jungen Frauen auch zehn männliche Aktivisten in der Organisation.
"Jedes unserer Mitglieder weiß, dass es Drohungen und Widerstand begegnen wird", sagt Zafar Salehi. Der Widerstand kommt aus konservativen, männerdominierten Kreisen. "Bestimmte Menschen fürchten durch unseren Erfolg einen Machtverlust." Zafar Salehi wünscht sich, dass die Mullahs, statt Kritik zu üben Respekt gegenüber Frauen predigen. Auf die Mehrheit des Volkes haben die Freitagsprediger immer noch einen großen, wenn auch allmählich kleiner werdenden Einfluss.
Auch wenn es nun eine Reihe Frauenrechtsorganisationen in Kabul gibt, betritt "Young Women for Change" in vielen Bereichen Neuland. YWFC hat am Weltfrauentag 2012 das erste "Women only"-Internetcafé in Kabul eröffnet. Der Zulauf ist groß. Die Einrichtung soll Frauen anders als in den sonst männerdominierten Internetcafés der Stadt einen Raum bieten, in dem sie unter sich sein können. "Eine sichere Umgebung um mit der Welt in Verbindung zu treten" nennt es Zafar Salehi.
In den letzten Monaten haben die Aktivisten von YWFC an einer Studie zum Thema "Belästigung auf der Straße" gearbeitet. Mehr als 3.000 Frauen aus unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft wurden dafür zu ihren Erfahrungen mit dem Thema befragt. Das Ergebnis wird im späten Frühjahr veröffentlicht. Eines ist schon jetzt klar: Praktisch jede afghanische Frau hat im öffentlichen Raum bereits verbale oder physische Übergriffe erlebt. Im letzten Jahr brachte YWFC das Problem erstmals in einer Demo auf den Plan. Das Medieninteresse war groß, doch von anderen Seiten gibt es Zurückhaltung.
"Unsere Gesellschaft will sich nicht eingestehen, dass so etwas passiert", sagt Zafar Salehi. Männer, auf die Problematik hingewiesen, suchten die Ursache oft bei den Frauen. Die Frau sei schließlich selbst schuld wenn sie sich nicht angemessen anziehe. "Doch das ist falsch. Wir haben herausgefunden, dass kopftuchtragende Frauen ebenso Opfer von Belästigung sein können wie Frauen in der Burka", meint Salehi.
Die Burka – kaum ein Kleidungsstück hat im letzten Jahrzehnt eine ähnliche Berühmtheit erlangt. Seit Afghanistan wieder das Interesse der westlichen Aufmerksamkeit genießt, dient sie als Symbol für die Rückwärtsgewandtheit und Brutalität des Taliban-Regiments. Andere nutzen sie als pauschalisierende Keule gegen den Islam. "Die Burka" wird manchmal allzu schnell als Schlagwort verwendet.
Im afghanischen Kontext oder fälschlicherweise sogar als Wort für jegliche feminine Kopfbedeckung zwischen Marokko und Pakistan. Selten wird gefragt nach individuellen Motiven für das Tragen einer Burka, nach der Unterscheidung von Freiwilligkeit und Zwang und nach dem Zusammenspiel von gesellschaftlichem Umfeld, Familientradition und religiöser Befindlichkeit. All das wird durch das Label "Islam" nur unzulänglich ausgedrückt.
In den Straßen Kabuls ist die Burka auch zehn Jahre nach dem Fall der Taliban präsent. Aber ebenso sehe ich dazwischen junge Frauen, die ihr Kopftuch nach iranischer Mode lässig auf den Hinterkopf rutschen lassen. Sie tragen Tunika, Jeans, Absatzschuhe und Makeup. Einige von ihnen haben tatsächlich ein paar Jahre im Iran gelebt. Andere folgen dieser neuen Kabuler Frauenmode. In Teilen der Stadt fordern Sie ihren Anteil vom öffentlichen Raum ein. Doch es ist ein langer Prozess. Und Kabul ist nicht Afghanistan. Afghanistan, das sind vor allem die Provinzen und ihre Dörfer, die mir bei diesem Besuch noch verschlossen bleiben.
Auch auf dem Bibi Mahru, einem Hügel im Nordosten Kabuls, haben Männer die Oberhand. Es ist Freitag, der Tag der Familienausflüge. Doch nur wenige Mütter, geschweige denn junge Frauen, sind zu sehen. Halbstarke Jungs schlendern zu Bollywoodmusik Arm in Arm vorbei und posieren kaugummikauend vor der Kamera. Männercliquen haben ihre Autos nahe am Hang geparkt. Durch Frontscheiben überblicken sie die Dächer ihrer Stadt. Ein junger Mann will mir Whisky andrehen.
Im Hintergrund liegt ein altes Schwimmbecken mit drei Sprungtürmen. Längst ist dort kein Wasser mehr zu finden. Das Schwimmbecken wirkt bizarr fehl am Platze. Es ist eingezäunt. Die Taliban führten auf den Sprungtürmen Exekutionen durch. Die frisch wirkende blaue Farbe an den Türmen hat die Spuren dieser blutigen Tatsache übergepinselt.
An der anderen Seite des Hügels erinnert ein gerade errichtetes Grab abermals an die Verwundbarkeit Afghanistans. Es gehört dem ehemaligen Staatspräsidenten Burhanuddin Rabbani, der vielen ein Hoffnungsträger war und im letzten Jahr erschossen wurde. Mit der Schneeschmelze und dem Frühlingsbeginn haben in den letzten Jahren stets die Gewaltakte begonnen. Was wird dieses Jahr bringen?
Zafar Salehi ist zwar zuversichtlich für Afghanistans Zukunft. Er glaubt nicht an eine Wiederkehr der Taliban. Dass es YWCF überhaupt geben kann sei ein Fortschritt in sich. "Aber sollte sich die Lage nach 2014 wieder verschlechtern, werden die Frauen die ersten Leidtragenden sein", sagt er.
Am Bibi Mahru lassen wir einen Drachen steigen. Der bunt flatternde Punkt am Himmel vermittelt ein Gefühl von Hoffnung. Unter den Taliban war Drachenfliegen verboten. Doch der Drache steigt höher als die unrühmlichen Sprungtürme, zappelt eine Weile und fällt zu Boden. Zumindest ein solcher Moment von Leichtigkeit ist über den Dächern von Kabul wieder möglich.
Marian Brehmer
© Qantara.de 2012
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de