Gesellschaftlich isoliert

Etwa 8000 Aidsinfizierte sind in Ägypten laut WHO-Angaben registriert, die Dunkelziffer liegt weitaus höher. Weil kaum Aufklärung über die Krankheit betrieben wird, sind die Betroffenen häufig zu einem Leben in völliger Isolation verurteilt. Von Nelly Youssef

Etwa 8000 Aidsinfizierte sind in Ägypten laut WHO-Angaben registriert, die Dunkelziffer liegt weitaus höher. Weil kaum Aufklärung über die Krankheit betrieben wird, sind die Betroffenen häufig zu einem Leben in völliger Isolation verurteilt.

Ein Symbol der Solidarität mit HIV-Infizierten - die rote Schleife
Obwohl sie die Solidarität von Familie und Freunden dringend benötigen, gelten HIV-Infizierte in Ägypten noch immer als Schandfleck der Familie

​​In einem ägyptischen Krankenhaus, das auf die Behandlung Aidskranker spezialisiert ist, sitzt der 35-jährige Muhammad und liest ein Buch übers Reisen. Seit 1995 weiß Muhammad, der seinen Lebensunterhalt als Journalist verdiente, dass er Aids hat.

Der erste Arzt, den er damals wegen eines starken Schwächegefühls und enormem Gewichtsverlusts aufgesucht hatte, diagnostizierte auf Typhus.

Doch Muhammad hatte das Gefühl, sich mit Aids infiziert zu haben. Anonym wandte er sich an eines der Labore, in denen Aidstests durchgeführt werden - die Diagnose war positiv. Vermutlich hatte sich Muhammad bei einer der Ausländerinnen angesteckt, die er über seine Arbeit kennen gelernt hatte.

Therapie im Ausland

Da Aidskranke in der ägyptischen Gesellschaft als Übel gelten, beschloss Muhammad, sich im Ausland therapieren zu lassen. Familienmitglieder und Freunde sollten auf Wunsch seiner Eltern nichts von seiner Krankheit erfahren.

Sein Vater unterstützte ihn finanziell, er bezahlte Unsummen für die teure Therapie. Ein Aidskranker benötigt monatlich zwischen 1200 und 1800 ägyptische Pfund zur Deckung der Therapiekosten - eine Summe, die sich nur Reiche leisten können.

Ein Gefängnis, von der Gesellschaft errichtet

Jetzt wird Muhammad in einem ausgezeichneten Krankenhaus in Kairo behandelt. Abd al-Hadi Misbah, der zuständige Arzt, ist beliebt bei den Patienten, ehrenvoll nennen sie ihn "Vater der Aidskranken".

Doch Muhammad leidet unter der Isolation: Nachdem seine Erkrankung bekannt wurde, hat man ihn sofort von seiner Arbeitsstelle entlassen. Weder Verwandte noch Freunde kommen ihn besuchen. Sein Vater ist inzwischen gestorben, und seine Mutter ist so schwer krank, dass auch sie ihn nicht mehr besuchen kann.

Wenn Muhammad einmal zufällig einem seiner Verwandten oder Freunde begegnet, versuchen diese, ein Gespräch zu vermeiden. Aus Angst, sich anzustecken, gibt man ihm nicht die Hand. Noch immer sind viele Ägypter nicht über die Krankheit aufgeklärt.

Die Ägypter sollten Aidskranken mit der Liebe und Aufmerksamkeit begegnen, derer sie bedürfen, appelliert Muhammad. Und er hofft, dass an Schulen und Universitäten, aber auch in den Medien, mehr sexuelle Aufklärung betrieben werde.

Wie ein lebender Toter

Die Beschwerden, so der 22-jährige Ala, die ihm die Krankheit bereiten, sind nichts im Vergleich zu dem Leid, das durch das Gefühl entstehe, seine Mitmenschen hätten seinen Tod beschlossen. So stark sei die Abneigung, mit der sie ihm begegnen, seit sie wissen, dass er infiziert ist – obwohl Ala nach wie vor bei guter Gesundheit ist.

Er setzt sein Studium an der theologischen Fakultät der Azhar-Universität fort. Allerdings studiert er zu Hause, die Prüfungen legt er getrennt von seinen Kommilitonen ab. Um sich nicht dem Widerwillen seiner Kommilitonen auszusetzen, hat er sich von der Universität die Befreiung von der Anwesenheitspflicht im Unterricht genehmigen lassen.

Ala möchte Prediger oder Imam, Leiter einer religiösen Gemeinschaft, werden. Er möchte die Menschen aufklären, sie über die Sexualität und auch über die damit zusammenhängenden Krankheiten unterrichten.

Die ägyptischen Religionsvertreter weigern sich aufgrund eines falschen Sittlichkeitsverständnisses, solche Informationen zu verbreiten. Viele Jugendliche sehen sich deshalb mit großen Problemen konfrontiert, weil sie nicht Bescheid wissen über sexuelle Beziehungen und die Risiken von Aids.

Wie er sich infiziert hat, weiß Ala nicht. Als die Diagnose gestellt wurde, hatte er eine sexuelle Beziehung zu einer Ägypterin. Dies war die einzige engere Beziehung in seinem Leben. In jener Zeit hatte er sich auch an der Hand verletzt. Er erhielt eine Bluttransfusion und musste sich verschiedenen Analysen unterziehen.

Alas eigentliches Problem ist die Armut, die es ihm nicht erlaubt, regelmäßig die sehr teuren Medikamente zu kaufen. Als Lichtblick bezeichnet er die Selbsthilfegruppe, in der er sich mit anderen Aidskranken, einem Psychologen und einem Sozialarbeiter trifft.

Kleine Schritte

Mit einem nationalen Programm zur Bekämpfung von Aids bemühe man sich um eine andere Wahrnehmung der Krankheit im Bewusstsein der Bevölkerung, so erklärt der Arzt Dr. Nasr Sayyid. Es gebe Kampagnen in Schulen, Fabriken und Universitäten, außerdem habe man eine Aids-Hotline eingerichtet, über die sich jeder kostenlos über die Krankheit informieren könne.

Dies alles aber gehe sehr langsam, meint Dr. Nasr Sayyid. Es sei jedoch höchste Zeit, dass sich die Einstellung der Leute gegenüber Aidskranken ändere. Noch immer gelten sie als Schandflecken für die Familie, als Makel der Gesellschaft.

Etwa 8000 Aidskranke sind in Ägypten registriert, dazu kommen noch diejenigen, die ihre Krankheit verheimlichen und auf eine Therapie verzichten.

Dr. Abd al-Hadi Misbah, der "Vater der Aidskranken", fordert, der Staat müsse selbst die erforderlichen Medikamente produzieren, damit auf den teuren Import verzichtet und die Kosten für die Kranken gesenkt werden könnten. Auch sollten gesonderte Stationen für Aidskranke in den staatlichen Krankenhäusern eingerichtet werden.

Zusammen mit Gleichgesinnten, die sich sozial und intellektuell engagieren, ist er gerade dabei, eine Aidshilfegruppe, wie sie auch für Zucker- oder Herzkranke und deren Angehörige existieren, ins Leben zu rufen.

Aufklärungsunterricht

Der Hauptgrund für die Verbreitung von Aids oder anderen Infektionskrankheiten ist mangelnde Vorsicht infolge mangelnder Aufklärung der Jugendlichen. Einige namhafte Persönlichkeiten, unter ihnen der ägyptische Kulturminister Faruk Hosni, schlugen deshalb im ägyptischen Parlament vor, Sexualaufklärung als Unterrichtsfach an Schulen und Universitäten einzurichten.

Dieser Vorschlag stieß jedoch auf Ablehnung, insbesondere da der ägyptische Großmufti Ali Djuma eine Fatwa erlassen hat, die die Erteilung von Sexualunterricht für Kinder und Jugendliche an den Schulen nicht gestattet. Der einzig richtige Weg, auf dem Aufklärung geschehen könne, so der Mufti, führe über das elterliche Heim und über den naturwissenschaftlichen und den Religionsunterricht.

Die Eltern aber, so der "Vater der Aidskranken", seien der Aufgabe der Sexualaufklärung nicht gewachsen. Wie sollte es auch anders sein in einer Gesellschaft, in der Sitten, Scham und Schande alles bestimmende Faktoren seien?

Nelly Youssef

Aus dem Arabischen von Stefanie Gsell

© Qantara.de 2005

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