"Von uns Muslimen wird jetzt mehr abverlangt"
"Freut Euch, Gemeinschaft der Muslime", heißt es in einem Bekennerschreiben, das direkt nach dem Attentat im Internet kursierte und vermeintlich den Attentätern zuzurechen war. Diese an die Muslime gerichtete Botschaft kann hässlicher und verabscheuenswürdiger nicht sein, beschreibt sie doch genau das Gegenteil, von dem, was die Mehrheit der Muslime speziell in diesen Stunden und Tagen empfindet.
Angst und Schrecken geht bei allen Menschen um. Bei den Muslimen noch ein wenig mehr. Weil sie nicht selten die Wut und die Ohnmacht Vieler nun besonders gegen sich gerichtet sehen. Abgesehen davon, dass Muslime selber zu direkt Betroffenen in den U-Bahnen, in den Bussen und auf den Straßen Londons zählen, jetzt müssen sie wieder mit dem Gefühl leben, unter Generalverdacht gestellt zu werden.
Eine Gruppe weltweit operierender Verbrecher, die unter Missbrauch einer Weltreligion ihre schändlichen Ziele verfolgt, meint nun, sie kann uns Muslime zu Komplizen machen. Wir dürfen das nicht zulassen!
Und dennoch, sie macht uns zu Geiseln und zu ihren Gefangenen, wenn wir uns dagegen nicht deutlicher als bisher erheben.
Mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln müssen wir uns dieser menschenverachtenden Botschaft und Tat entgegenstellen.
Von uns Muslimen wird jetzt mehr abverlangt, als nur unsere Bestürzung und Verurteilung zum Ausdruck zu bringen. Das haben die wichtigsten islamischen Organisationen in Europa und Vertreter der islamischen Staaten unmissverständlich und direkt getan. Das ist auch gut so. Alleine reicht dies aber nicht.
Für eine intensivere innerislamische Debatte
Wir brauchen jetzt Friedensgebete, Mahnwachen, Kundgebungen, Lichterketten und deutliche Freitagsansprachen.
Wir benötigen darüber hinaus eine intensivere innerislamische Debatte über den Extremismus und die Verführbarkeit Einiger durch diese Ideologie und seine Sektierer und Scharlatane. Wir müssen mehr als bisher mithelfen, den Nährboden dieser nihilistischen, selbst zerstörerischen Kraft, der einige Anhänger anheim gefallen sind, zu beseitigen.
Wir müssen begreifen, dass es falsch verstandene Solidarität bedeutet, wenn wir uns nicht von dieser "Fitna" (wörtl.: Heimsuchung, hier: Irrglaube) ganz klar abgrenzen und mit allen legalen Mitteln bekämpfen.
Dieser Irrglaube, durch Terror und die Pervertierung der eigenen religiösen Grundsätze Veränderungen herbeiführen zu wollen, trägt zurzeit maßgeblich zum Erscheinungsbild des Islam bei, obwohl der ganz große Teil der Muslime in der Welt sich damit keineswegs identifiziert.
Keine falsch verstandene islamische Brüderlichkeit
Deshalb darf es mit diesem ideologischen Bodensatz keine noch so versteckte Affinität geben. Wir dürfen ihnen aus falsch verstandener islamischer Brüderlichkeit keinen Raum mehr in den Hinterhöfen, Vereinen und wo sie auch auftauchen mögen, geben. Das ist speziell die Lehre für die Muslime aus diesen Tagen.
Couragiert ist heute derjenige Muslim, der diese "Fitna" endlich beim Namen nennt und der in der innerislamischen Debatte klar macht:
Terrorismus und Selbstmordattentate haben weder eine Grundlage im Koran, noch im Leben des Propheten eine Rolle gespielt, und Unrecht darf nicht mit Unrecht beglichen werden. Die Antwort auf Abu Ghraib und Guantanamo kann und darf nicht das Abschlachten unschuldiger Zivilsten bedeuten.
Und so belastet jeder weitere Anschlag der Terroristen das Verhältnis zwischen Muslimen und Mehrheitsgesellschaft. Das ist auch das Kalkül der Verbrecher. Weil sie weder die Macht noch die Kraft haben, gegen "ihren" Feind zu Felde zu ziehen, wollen sie die Muslime in den Strudel mit hineinziehen.
Das Schlimmste, was ihnen widerfahren kann, ist, wenn eine Politik der Anerkennung und des Vertrauens gebildet wird.
Wir brauchen vertrauensbildende Maßnahmen, beispielsweise Moscheebesuche seitens der Politiker, die immerhin in Spanien oder auch in England keine Seltenheit sind. Sie dann zu ermutigen und darin zu bestärken, gegen extremistische Tendenzen vorzugehen, ist weitaus effektiver und klüger, nicht zuletzt, weil sich so die Chance immer wieder eröffnet, im Dialog so manchem Unentschlossenen auf die richtige Seite zu verhelfen.
Muslime erwarten differenzierte Sicht der Dinge
Medien und Politik dürfen Spekulationen, Mutmaßungen, aber auch Verdächtigungen jeder Art nicht mehr Tür und Tor öffnen. Vor allem derart: Steht der Islam nicht indirekt doch diesen Attentätern nahe?
Schreiben Sie uns Ihre Meinung zu diesem Beitrag an
kontakt@qantara.de So wie ein Mladic oder ein Karazic, der vor der Ermordung der Muslime in Srebrenica nochmals die Segnung der orthodoxen Kirche einholte, rein gar nichts mit dem Christentum zu tun hat, so erwarten auch die Muslime ihrerseits eine klare und sachliche Differenzierung der Dinge.
Es gibt keine zwei Kategorien von Terroristen, einmal der islamistische und der andere, der IRA- oder PKK-Terrorist. Und so darf die verschärfte Sicherheitspolitik am Ende nicht die Falschen treffen. Schließlich erlegt man eine im Busch versteckte Schlage auch nicht, indem man die ganze Steppe niederbrennt. Dies wäre sprichwörtlich eine Politik der verbrannten Erde.
Aiman Mazyek
© Qantara.de 2005
Aiman Mazyek ist Chefredakteur von islam.de, einem deutsch-islamischen Webportals und stellvertretender Vorsitzender der von ihm und Rupert Neudeck gegründeten Hilfsorganisation Grünhelme.
Qantara.de
Die Terroranschläge von London
Stellungnahme von Muslimen Großbritanniens unerlässlich
Der Publizist Khaled Hroub fordert nach den Anschlägen in London von der muslimischen Gemeinde in Großbritannien eine deutliche und wegweisende Stellungnahme, damit die Sicherheit und Stabilität im Zusammenleben mit der nicht-muslimischen Mehrheit gewährleistet ist.
Muslime in Deutschland
Gefährliche Ignoranz
Die Einstellungen der Muslime zu Staat und Gesellschaft in Deutschland werden viel zu wenig erforscht. Das fördert Verschwörungstheorien über "die Muslime" und den Terror. Von Eberhard Seidel
Islamistischer Terror in London
Generalverdacht beabsichtigt?
Die Täter der Anschläge von London waren nach Polizei-Erkenntnissen britische Staatsbürger. Welche Folgen hat dies für die europäischen Gesellschaften? Peter Philipp kommentiert.